Der König lief voraus und gab uns zu verstehen, dass er ein paar Minuten mit sich allein sein wollte. Während wir stehen blieben und trotzdem versuchten, ein Auge auf ihn zu halten, wisperte Simut: »Die ganze Stadt zerfällt wieder zu Staub.«
»Ich schätze mal, mehr ist sie nie gewesen.«
»Man bräuchte bloß wieder ein bisschen Wasser zuzugeben«, scherzte er traurig.
Diese überraschend humorige Einlage brachte mich zum Schmunzeln. Er hatte recht. Man brauchte bloß Wasser zuzugeben und Lehm herzustellen, die Ziegel in der Sonne trocknen zu lassen, dann Putz und Farbe beizumengen, Holz und Kupfer von der Insel Alašija, Gold aus den Minen Nubiens sowie jahrelange körperliche Schwerstarbeit, Blut, Schweiß und viele Tote von sonst irgendwo – und siehe da: eine Vision des Himmels auf Erden. Für die Errichtung dieser Vision aus ewigem Stein hatte es indes sowohl an Zeit als auch an Geld gemangelt, und deshalb verwandelte sie sich jetzt wieder in den Staub zurück, aus dem man sie erschaffen hatte.
Der König stand vor einer großen Steinstatue seines Vaters. Eingemeißelte Schatten sorgten für ihre kantigen Gesichtszüge, die alle Eigenschaften der Macht verkörperten. Früher war das die ultimative Darstellung königlicher Herrschaft gewesen. Der Stil mit seinen merkwürdig unklaren und lang gezogenen Formen galt aber bereits heute als ein Ding der Vergangenheit. Mit undurchdringlicher Miene stand der junge König inmitten der trostlosen Ruinen einer großen Vision: ein kleiner, gebrechlicher Mensch vor seinem mächtigen Steinvater. Und dann tat er etwas Sonderbares: Er sank auf die Knie und betete die Statue an. Wir beobachteten ihn dabei und fragten uns, ob wir es ihm gleichtun sollten. Aber niemand in seinem Gefolge schien dazu bereit zu sein. Ich ging zu ihm und hielt ihm einen Sonnenschirm über den Kopf. Als er aufblickte, sah ich, dass seine Augen voller Tränen waren.
Wir besuchten die einzelnen Paläste der Stadt und stiegen dabei über seltsame Indizien hinweg, die verrieten, dass hier früher Menschen gelebt hatten: zerbrochene Krüge und leere Weinbecher, deren Inhalt längst verdunstet war; kleine Haushaltswaren wie Tassen und Teller, die noch nicht kaputt, aber voller Sand und Staub waren. Wir wanderten durch hohe, ausgeschmückte Hallen, die einstmals die Heimstatt enormen Wohlstands und hervorragender Musik gewesen waren und in denen jetzt Vögel, Schlangen, Ratten und Holzwürmer nisteten. Unter unseren Füßen lagen die früher so grandios bemalten Böden mit den Wassergärten voller glasierter Fische und Vögel, die jetzt vom Zahn der Zeit verblichen und gerissen waren.
»Ich stelle fest, dass ich mich plötzlich an Dinge erinnere, die ich vergessen hatte«, sagte der König mit leiser Stimme. »Ich war damals noch ein kleiner Junge. Ich bin im Nördlichen Flusspalast aufgewachsen. Jetzt erinnere ich mich aber, dass man mich mal in diese Halle hier gebracht hat.« Wir standen in der Halle des Königspalastes am Fluss. Staubig und grell fielen die langen Strahlen der Morgensonne in den Saal. Eine Vielzahl anmutiger Säulen stützte die imposante Decke, die immer noch das kräftige Indigoblau des Nachthimmels und das glitzernde Gold der Sterne zierten.
»Mein Vater sprach nur selten mal. Ich hatte Ehrfurcht vor ihm. Wir beteten manchmal zusammen. Ab und an brachte man mich her, damit ich ihn allein besuchen konnte. Das war immer ein besonderer Anlass. Dann zog man mich festlich an und trug mich durch endlose Korridore voller Schweigen und beängstigender, düsterer, hässlicher, alter Männer, die sich tief vor mir verbeugten, aber niemals etwas zu mir sagten. Und dann geleitete man mich zu ihm. Oft ließ er mich geraume Zeit warten, bis er mich zur Kenntnis nahm. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Ich hatte Angst.«
Ich wusste nicht, wie ich auf diese unerwartete Beichte reagieren sollte. Also revanchierte ich mich, indem ich etwas über mich erzählte.
»Mein Vater ist auch ein schweigsamer Mensch. Er brachte mir bei, wie man angelt. Als ich noch ein Kind war, verbrachten wir oft nach Einbruch der Abenddämmerung viele Stunden auf einem Schilfboot, fuhren darin am Flussufer entlang. Keiner von uns beiden sprach ein Wort. Stattdessen genossen wir das Schweigen.«
»Das ist eine schöne Erinnerung«, sagte er.
»Es waren einfache Zeiten.«
»Einfache Zeiten …«
Er wiederholte die Worte mit einer merkwürdigen Sehnsucht nach der Vergangenheit, und plötzlich war ich mir sicher, dass er in seinem Leben niemals einfache Zeiten erlebt hatte. Vielleicht sehnte er sich danach am meisten. Wie die Armen sich nach großen Reichtümern verzehren, so glauben die Reichen in ihrer himmelschreienden Arroganz, sie sehnten sich nach Schlichtheit und Armut.
Der König starrte empor zum ›Fenster der Erscheinung‹, jenem Balkon, auf dem sein Vater einstmals hoch über seinem Volk gestanden und Geschenke, Kostbarkeiten und Ehrenketten verteilt hatte. Über dem Balkon war ein Relief, das die Sonnenscheibe des Aton mit den vielen Strahlen der Sonne zeigte, die wie schlanke Arme nach unten reichten, an deren Enden zarte Hände das Anch-Kreuz des Lebens offerierten. Nur war der Balkon jetzt leer, und es war niemand da, der derartige Segnungen hätte austeilen oder empfangen können.
»Ich erinnere mich an diese Halle. Ich erinnere mich an die vielen Männer, die sich hier versammelt hatten, und an langes Schweigen. Ich erinnere mich, dass sie mich alle anstarrten. Ich erinnere mich …«
Er stockte einen Moment. »Aber mein Vater war nicht hier«, fuhr er dann unsicher fort. »Ich erinnere mich, dass ich ihn gesucht habe. Eje war aber da. Und an seiner Seite musste ich durch die Menschenmenge hindurch in diesen Raum da gehen …«
Er zeigte mit der Hand auf eine Tür.
»Und was ist dann passiert?«
Langsamen Schrittes lief er über die verblassenden Flussszenen auf dem großartigen Fußboden auf die Tür zu, deren kunstvolle Holzschnitzereien für die Termiten ein grandioses Festmahl gewesen waren. Er drückte sie auf. Ich folgte ihm in einen lang gestreckten Saal. Sämtliche Möbel und was sonst noch darin gewesen sein mochte waren entfernt worden. Die hohle Akustik erinnerte an die eines Hauses, das seit Langem nicht bewohnt war. Er begann zu frösteln.
»Nach dem hier war nichts mehr wie vorher. Meinen Vater habe ich danach nur noch einmal gesehen, und als er mich erblickte, fing er an zu schreien wie ein Geisteskranker. Er hob einen Stuhl vom Boden und versuchte, mir den über den Kopf zu ziehen. Dann setzte er sich auf den Fußboden und weinte und stöhnte. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Weißt du, er war ziemlich verrückt. Es war ein schreckliches Geheimnis, aber ich wusste davon. Man brachte mich von hier weg nach Memphis. Ich erhielt meine Erziehung, lebte mit meiner Amme zusammen, und Haremhab wurde mein Lehrer. Er versuchte, mir ein guter Vater zu sein. Selbst der Name meines Vaters wurde nie wieder erwähnt. Es war, als habe er niemals existiert. Mein eigener Vater war zu einer Unperson geworden. Und dann machte man mich eines Tages fertig für die Krönung. Da war ich neun Jahre alt. Ich wurde mit Anchesenpaaton vermählt. Man gab uns neue Namen. Ich, der ich mein Leben lang Tutanchaton geheißen hatte, wurde jetzt in Tutanchamun umbenannt. Sie wurde Anchesenamun. Namen sind Macht, Rahotep. Wir verloren, wer wir gewesen waren, und wurden etwas anderes. Wie waren wie kleine Waisen, die sich verirrt hatten, verwirrt und unglücklich. Und ich wurde mit der Tochter der Frau verheiratet, von der behauptet wurde, sie habe meine Mutter auf dem Gewissen. Die Überraschung war, dass ich Anchesenamun mochte. Und irgendwie ist es uns gelungen, einander nicht wegen der Vergangenheit zu hassen. Wir wissen, dass die nicht unsere Schuld ist. Und im Grunde ist sie so ziemlich der einzige Mensch auf der ganzen Welt, dem ich vertrauen kann.«