Die Gefühle, die in ihm tosten, brachten seine Augen zum Glitzern. Ich gelangte zu dem Schluss, dass ich nicht schweigen konnte.
»Wer war Eure Mutter?«
»Ihr Name ist ebenso wie der Name meines Vaters zu Staub zerfallen und davongeweht worden.«
»Kija«, sagte ich.
Bedächtig nickte er.
»Ich bin froh, dass du von ihr weißt. Damit lebt zumindest ihr Name irgendwo weiter.«
»Ich kenne ihren Namen. Ihr Schicksal kenne ich nicht.«
»Sie ist verschwunden. Eines Nachmittags war sie noch da, und dann – am gleichen Abend – war sie verschwunden. Ich erinnere mich, dass ich zu ihren Kleidertruhen gerannt bin und mich in einer davon versteckt und mich geweigert habe, wieder herauszukommen, denn das Einzige, was noch von ihr übrig war, war der Duft in ihren Kleidern. Ich hebe sie immer noch auf, obwohl alle mich davon zu überzeugen versucht haben, dass ich sie hergeben solle. Das werde ich nicht tun. An manchen Tagen riechen sie immer noch schwach nach ihr. Das ist sehr tröstlich.«
»Und Ihr habt nie herausgefunden, was ihr zugestoßen ist?«, fragte ich.
»Wer würde mir da schon die Wahrheit sagen? Und die Leute, die das Geheimnis kannten und hüteten, sind inzwischen tot. Abgesehen von Eje … Und der würde es niemals verraten. Also bleibt das Ganze ein Rätsel für mich. Manchmal wache ich in der Nacht auf, weil sie in meinen Träumen nach mir gerufen hat – aber ich kann nie verstehen, was sie sagt. Und wenn ich dann aufwache, verliere ich sie jedes Mal wieder aufs Neue.«
Irgendwo in den Schatten sang ein Vogel.
»Die Toten leben in unseren Träumen weiter – meinst du nicht, Rahotep? Hier drinnen sind sie unsterblich. Solange wir leben.«
Und dabei tippte er sich sacht an den Kopf und sah mich aus seinen goldenen Augen an.
27
Zwei Tage später brachte uns die starke Strömung des Großen Flusses in die südlichen Außenbezirke der Stadt Memphis. Die antiken Nekropolen, die man oberhalb des landwirtschaftlich genutzten Areals dicht an den Rand der Wüste gebaut hatte, sowie der zeitlose Tempel und die Pyramide von Sakkara – die ersten monumentalen Bauwerke der Beiden Länder – verbargen sich weit oben in der Hochebene. Simut beschrieb mir die anderen Bauten, die weiter nördlich lagen, die wir vom Fluss aus aber auch nicht sehen konnten: die strahlend weißen Pyramiden von Cheops und seinen Königinnen, der erst in jüngerer Zeit erbaute Tempel des Horus im Horizont und die grandiose Sphinx, an der Thutmosis IV. die Traumstele errichten ließ, die davon erzählte, dass er schwor, die Sphinx vom Sand zu befreien, wenn er zum König gekrönt würde – was tatsächlich geschah, obwohl er zu diesem Zeitpunkt keinen legitimen Anspruch auf den Thron hatte.
Im Vergleich zu der gewaltigen Metropole, die sich langsam vor unseren Augen auftat, wirkte Theben wie eine kleine Siedlung. Wir fuhren geraume Zeit weiter, vorbei an den vielen Tempelanlagen der Außenbezirke, vorbei an den riesigen Nekropolen, die im Westen an die Wüste grenzten, vorbei an den Vorstädten der Mittelschicht und den Armenvierteln, diesen Slums der Menschheit, deren chaotische Barackenviertel bis zum endlosen Grün der Felder reichten. Und überall ragten über den flachen Behausungen weiße Tempelmauern in den Himmel.
Umringt von einem Begrüßungskomitee aus Schiffen, Barken, kleineren Privatyachten und Ruderbooten fuhren wir in den Haupthafen. Am Pier gab es mehrere Anlegestege. Dort ankerten Handels- und Flottenschiffe aus vielen Ländern, aus denen Unmengen kostbarer Hölzer geladen wurden und bergeweise Minerale, Steine und Korn. Die Menschen drängten sich zu Tausenden auf den langen gepflasterten Straßen, die parallel zum Großen Fluss verliefen. Fischer hielten in ihrer Arbeit inne und blickten empor zu dem prächtigen königlichen Schiff. Dabei tropfte ihnen das Wasser der Netze, die sie gerade einholten, über die Arme, während sich flatternd zu ihren Füßen, auf dem Boden der kleinen Boote, silbern und golden ihre bisherige Ausbeute wand. Von den Frachtbooten starrten verstaubte Arbeiter, die bis zu den Knien in Unmengen Korn oder auf grob behauenen Steinplatten standen. Von überfüllten Fähren winkten Kinder, die von ihren Eltern hochgehoben wurden. Der Lärm zog Schaulustige an, die ihre Werkstätten, Lagerräume und Geschäfte verließen.
Tutanchamun trat an den Vorhang seiner Kabine. Er bedeutete mir, zu ihm zu kommen. Nervös zupfte er an seiner Kleidung. Er trug seine weißen königlichen Gewänder und die Doppelkrone.
»Sehe ich gut aus?«, fragte er mich beinahe schüchtern. »Ich muss gut aussehen. Viele Jahre sind vergangen, seit ich Memphis zum letzten Mal besucht habe. Und dass ich mich mit Haremhab getroffen habe, ist auch schon eine ganze Weile her. Er muss sehen, wie ich mich verändert habe. Ich bin nicht mehr der Junge, den er bevormunden kann. Ich bin der König.«
»Majestät, dass Ihr der König seid, ist eindeutig.«
Er nickte zufrieden. Im nächsten Moment zentrierte er sich wie ein großer Schauspieler, der sich bereit macht, ins Rampenlicht zu treten, und sein Gesicht unter der Doppelkrone nahm den Ausdruck absoluter Überzeugtheit an, der ihm soeben noch gefehlt hatte. Die Intensität des Augenblicks und die Anforderungen, die damit einhergingen, brachten das Beste in ihm hervor. Er blühte auf, wenn er Publikum hatte. Und dieses Publikum hier würde das größte sein, das er je gehabt hatte. Der Löwenpfleger übergab dem König den jungen Löwen, der an seiner Leine lief, und dann trat Tutanchamun an Deck und unter tosendem Beifall ins Licht des Re. Ich sah, wie er gezielt eine Haltung annahm, die Macht und Triumph ausstrahlte. Wie aufs Stichwort begann der junge Löwe zu brüllen. Die Menge, die nicht sehen konnte, dass das Raubtier von seinem emsigen Pfleger mit einer scharfen Speerspitze zu dem heroischen Brüllen animiert wurde, brüllte daraufhin nur noch enthusiastischer zurück, nicht wie eine Vielzahl von Einzelpersonen, sondern wie ein einziges großes Raubtier.
Das Spektakel, mit dem man uns am Pier willkommen hieß, war eine sorgfältig inszenierte und bewusst überwältigend gestaltete Zurschaustellung der militärischen Macht dieser Hauptstadt. So weit das Auge reichte, paradierten Soldaten in die schimmernde Arena, perfekt gedrillte Reihen der einzelnen Divisionen, von denen jede nach dem Schutzgott des Gaues benannt war, in dem man die Wehrpflichtigen und Offiziere aushob. Dazwischen liefen Tausende von Kriegsgefangenen, zusammen mit ihren Frauen und Kindern. Man hatte sie gefesselt, mit Seilen am Hals aneinandergebunden und so zu einer Haltung völliger Unterwerfung gezwungen: Libyer in Umhängen mit langen Seitenlocken und Kinnbärten, Nubier in ihren kurzen Röcken und Syrer mit langen Spitzbärten. Hunderte schöne Pferde – Kriegsbeute – tänzelten auf ihren eleganten Hufen. Abgesandte der bezwungenen Länder fielen auf die Knie, flehten um Gnade, darum, dass man ihren Völkern den Odem des Lebens nicht entziehen möge.
Und mittendrin, im Herzen des Ganzen, stand neben einem leeren Thron in der prallen Sonne eine einsame Gestalt, ganz so, als gehöre alles, was hier vorgeführt wurde, ihm. Haremhab, Oberbefehlshaber und General des Heeres der Beiden Länder. Ich erkannte ihn sofort an seiner stocksteifen Haltung. Reglos wie eine finstere Statue stand er da und wartete.
Tutanchamun ließ sich Zeit, ließ sie alle warten wie ein Gott und ergötzte sich am Beifall der Menge. Die alten Botschafter schwankten inzwischen in der Hitze, die Menschenmassen lechzten nach den Wasser- und Obstverkäufern, und die Offiziellen der Stadt schwitzten in ihrem Ornat. Endlich ließ er sich herab, in Begleitung von Simut und einer geschlossenen Reihe aus königlichen Wachen vom Schiff zu steigen. Wieder schrien die Menschen ihren Beifall und ihre Loyalität heraus, und die Würdenträger bedachten ihn mit den üblichen Gesten des Respekts und der Huldigung. Der König selbst zeigte keinerlei Reaktion, als sei dieses ganze Schauspiel irgendwie unbedeutend und unwichtig für ihn.