Als er die heißen Steine der Stadt betrat, schwärmten die Wachen auf ein Handzeichen von Simut aus und umringten den König wie Tänzer in einer einstudierten Choreografie, Pfeil und Bogen im Anschlag. Simut und ich suchten mit den Augen die Menschenmenge und die Dächer ab, ob von irgendwo Ärger drohte. Haremhab wartete auf den richtigen Moment. Dann bot er dem König respektvoll an, auf dem Thron Platz zu nehmen. Doch erweckte diese extrem arrogante Geste den Eindruck, als sei der König der weniger mächtige Mann. Der eisige Ausdruck auf Haremhabs Zügen schien sogar die Fliegen zu vertreiben. Er drehte sich zur Menschenmenge um. Eine folgsame Stille machte sich breit. Dann wandte er sich mit lauter Stimme an jeden Einzelnen der Tausenden, die da versammelt waren.
»Ich spreche zu Seiner Majestät, Tutanchamun, Herr der Beiden Länder. Ich bringe ihm die Führer aller ausländischen Territorien, damit sie ihn anflehen, sie am Leben zu lassen. Diese niederträchtigen Ausländer, die die Beiden Länder nicht kennen, ich lege sie ihm für alle Ewigkeiten zu Füßen. Von den äußersten Gebieten Nubiens bis hin zu den entferntesten Regionen Asiens, sie alle unterstehen dem Befehl seiner großen Hand.«
Dann brachte Haremhab vorsichtig sein Knie auf den Boden, senkte mit arroganter Demut sein gepflegtes Haupt und wartete darauf, dass der König sich für seine formelhaften Worte bedankte. Die Sekunden tropften dahin wie Wasser in einer Uhr, denn Tutanchamun ließ ihn so lange wie eben möglich dort knien, in aller Öffentlichkeit in ehrerbietig gebückter Haltung. Ich war beeindruckt. Der König nutzte die Gelegenheit zu seinen Gunsten. Die Menschenmenge schwieg weiter und beobachtete diese richtiggehende Konfrontation zwischen den beiden Männern aufmerksam, ein Streitgespräch in der Sprache des Erscheinungsbilds und Protokolls. Endlich, er passte den richtigen Moment genau ab, legte der König ein Geschenk um den Hals des Generals, das aus fünf prächtigen Halsketten bestand. Er brachte es jedoch fertig, das auf eine Art und Weise zu tun, dass die Ketten wirkten wie die Last der Verantwortung und nicht wie eine Gabe des Respekts. Dann half er dem General, sich wieder zu erheben, und umarmte ihn.
Als Nächstes begrüßte der König, wie das Protokoll es vorschrieb, die anderen hohen Beamten und nahm ihre Ehrerbietungen entgegen. Endlich bestieg er das Podest mit dem Thron, das unter einem Baldachin stand und etwas Linderung der sengenden Hitze auf den Steinen bot. Auf Haremhabs Befehl zogen dann sämtliche Divisionen sowie alle Kriegsgefangenen am König vorüber, ein Spektakel, das von Trompeten und Trommeln untermalt wurde. Es dauerte Stunden. Doch der König bewahrte die ganze Zeit über seine steife Haltung und seinen geistesabwesenden Blick, und das, obwohl er unter der Doppelkrone so sehr schwitzte, dass ihm das Wasser heruntertropfte und seine Tunika durchnässte.
Auf den Streitwagen ging es in die Stadtmitte. Simut und ich fuhren voraus, vor Tutanchamun, der von seinen Laufwachen flankiert wurde, deren Waffen im senkrecht stehenden Licht der Sonne blitzten. Mir fiel auf, dass die Wohnhäuser und öffentlichen Bauten hier nicht anders aussahen als in Theben, es gab nur wesentlich mehr davon: Die Stadthäuser waren wegen Platzmangels in die Höhe gebaut worden, und weiter unten in den Seitenstraßen befanden sich die bescheideneren Behausungen derer, die sich im Dienste der Armee abrackerten, der Institution, um die sich in dieser Stadt alles drehte. Diese Gebäude bestanden jeweils aus nur einem Raum, der zugleich Arbeitszimmer, Stall und Zuhause war und direkt an der schmutzigen Straße lag. Auf den königlichen Straßen und den gepflasterten Prozessionswegen, die von Sphingen, Obelisken und Kapellen gesäumt wurden, hatte man keine Schaulustigen zugelassen, sodass wir uns rasch auf den Palast von Memphis zubewegten. Über den heftigen Lärm der Räder hinweg, die über die zerfurchten Pflastersteine ratterten, wies Simut mich auf die berühmten Sehenswürdigkeiten hin: im Norden der gewaltige Lehmziegelbau der alten Zitadelle und die Weißen Mauern, denen die Stadt ihren Namen verdankte, und im Süden der Große Tempel des Ptah mit seiner trapezförmigen Umfassungsmauer. In südlicher Richtung verlief ein Kanal bis ganz hinunter zu der im Außenbezirk liegenden Tempelanlage der Göttin Hathor. Während unserer Fahrt glitzerten rechts und links von uns weitere Kanäle auf, die den Fluss und den Hafen mit dem Stadtkern verbanden.
»Es gibt mindestens fünfundvierzig verschiedene Sekten in der Stadt, und jede hat ihren eigenen Tempel«, rief er stolz. »Und draußen im Westen liegt der Tempel des Anubis.« Ich stellte mir die Einbalsamierer, die Sargmacher, die Masken- und Amuletthersteller und die Totenbuch-Schreiber vor, all die hochspezialisierten Handwerker, die sich in einem solchen Viertel drängten, um der komplexen Aufgabe nachzugehen, diesen mächtigen Gott und Hüter der Nekropolen und Grabstätten gegen Bösewichte zu schützen. Leider war für neugierige Besichtigungstouren keine Zeit.
Simut war sehr daran gelegen, dass wir vor dem König eintrafen. Um einen Blick auf seine Ankunft vor dem Großen Palast von Memphis zu erhaschen, hatten sich schon jetzt in der Enge der Straßen und Gassen gewaltige Menschenmengen eingefunden, die man allerdings nicht in die Nähe des offenen Platzes vor den Palasttürmen ließ. Nichtsdestotrotz war das hier in puncto Sicherheit ein Albtraum, denn der Platz war gestopft voll mit Würdenträgern aus dem In- und Ausland, hohen Beamten und Männern der Oberschicht. Simuts Vorhut bezog schnell Position; reibungslos und ohne Lärm zu verursachen, nahmen sie ihre Stellungen ein und befahlen Leuten in bestimmtem Ton, den Weg zu räumen, um dem König eine sichere und geschützte Durchfahrt zu ermöglichen. Sie wussten genau, was sie taten, und bewegten sich wie einstudiert nach Mustern, die sie viele Male geübt und ausgeführt hatten. Ihr mustergültig brüskes Verhalten ließ niemanden, nicht einmal die Palastwachen von Memphis, an ihrer Autorität zweifeln. Als Nächstes bezogen die königlichen Bogenschützen ihre Positionen und zielten mit ihren großartigen Pfeilen auf die Dächer.
Dann traf der König ein, umringt von weiteren Wachsoldaten, und die Tempeltrompeten ertönten von den Mauern. Ihr Klang im Verein mit den Jubelschreien der Massen und den gebellten Befehlen der Kommandeure war ohrenbetäubend. Doch ehe wir uns versahen, glitt der königliche Reiterzug aus der staubigen Hitze, Helligkeit und Kakophonie der Straßen in die kühle Stille der ersten Empfangshalle. Schlagartig waren wir alle in relativer Sicherheit. Hier warteten noch mehr hohe Beamte auf die Ankunft des Königs. Es war das erste Mal, dass ich ihn aus der Nähe bei einem offiziellen Anlass erlebte. Während er mir im Palast manchmal vorgekommen war wie ein kleiner Junge, der sich verirrt hatte, benahm er sich jetzt wie ein König: Seine Haltung war aufrecht und würdevoll, sein schönes Gesicht ruhig und gelassen. Dessen Ausdruck lechzte weder mit einem unsicheren Lächeln nach Anerkennung, noch trug es mit arrogantem Hochmut seine Macht zur Schau. Sein Charisma beruhte auf seinem ungewöhnlichen Erscheinungsbild, auf seiner Jugend und dieser anderen Besonderheit, die er, wie ich mich erinnerte, schon als kleiner Junge besessen hatte: Er sah aus wie eine alte Seele in einem jungen Körper. Selbst der goldene Gehstock, den er überall mit sich führte, stellte eine Bereicherung seiner Persönlichkeit dar.
Simut hatte mich gewarnt, dass von General Haremhabs Seite massiver politischer Druck ausgeübt worden war, dass der König während seines königlichen Besuchs im Palast übernachtete. Eje hatte indes darauf bestanden, dass der König den erforderlichen Empfängen beiwohnte und dann zum Schiff zurückkehrte, damit man noch in der gleichen Nacht weiterreisen konnte. Das war die richtige Entscheidung. Memphis war gefährlich. Die Stadt war das Verwaltungszentrum der Beiden Länder, hier befanden sich aber auch das Hauptquartier des Heeres sowie Kasernen. Unglücklicherweise konnte man auf die Loyalität der Armee in diesen heiklen Zeiten nicht unbedingt bauen, gerade weil sie Haremhab unterstand.