Und so warteten wir schweigend, während die Sonne sich immer weiter senkte. Unmerklich wurden die Schatten der Klippen vor uns länger und länger, bis sie, wie eine langsam steigende Flut, den Tierkadaver erreichten, als wollten sie ihn fressen. Der Fährtenleser schüttelte den Kopf.
»Jetzt ist es zu spät«, flüsterte er. »Wir können morgen wiederkommen.«
Aber im gleichen Moment spannte er sich an wie eine Katze.
»Schaut. Da ist er …«
Ich starrte in die immer dunkler werdende Landschaft, sah aber nichts, bis mir schließlich auffiel, dass sich ganz leicht etwas bewegte, Schatten auf Schatten. Keinem war die Reaktion des Fährtenlesers entgangen, und plötzlich ging ein Ruck durch die Reihe der Männer und Pferde. Der Fährtenleser hob die Hand, um zu absoluter Stille zu mahnen. Gespannt warteten wir. Dann bewegte der Schatten sich vorwärts, näherte sich schleichend und verstohlen dem Kadaver. Der Löwe hob den Kopf, um mit den Augen das Gelände abzusuchen, als frage er sich, wo dieses fertige Festmahl wohl hergekommen sein mochte, und dann ließ er sich zufrieden nieder, um zu speisen.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte ich dem Fährtenleser zu.
In aller Ruhe überlegte er sich seine Antwort.
»Es ist zu spät, um ihn jetzt noch zu jagen, denn wir könnten dabei leicht seine Spur verlieren. Das ist hier schwieriges Gelände. Wir wissen aber jetzt, dass er unsere Gaben annimmt, und deshalb können wir morgen wiederkommen und ihn etwas früher mit weiterem Frischfleisch locken. Ein junges Männchen wie dieses hat enormen Appetit, er wird seit Langem nicht mehr gut gefressen haben. Und morgen werden wir gut vorbereitet sein und in Positionen stehen, aus denen wir ihn besser umzingeln können.«
Simut nickte beipflichtend. Doch plötzlich, ohne jede Vorwarnung und ohne Begleiteskorte, schoss der Streitwagen des Königs nach vorn und raste über den unebenen Boden, schneller und schneller. Damit hatte keiner von uns gerechnet. Ich sah, wie der Löwe den Kopf hob, als fühle er sich von dem Lärm in der Ferne gestört. Simut und ich trieben unsere Pferde an und preschten dem König hinterher. Wieder schaute ich zum Löwen, und ich sah, dass er den Kadaver jetzt wegschleppte, um sich damit hinter den Klippen zu verstecken, wo wir ihn niemals finden würden. Ich näherte mich dem Streitwagen des Königs und brüllte ihm zu, er solle anhalten. Er drehte sich zu mir, bedeutete mir jedoch mit einer Geste, er könne oder wolle mich nicht hören. Sein Gesicht strahlte vor Erregung. Wild schüttelte ich den Kopf, aber er grinste nur wie ein Schuljunge und wandte sich ab. Die Räder der Streitwagen schepperten bedrohlich, und die Achsen stießen hämmernde Klagelaute aus, so sehr hatte die Holzkonstruktion mit dem holprigen Terrain zu kämpfen. Ich schaute auf, und für einen kurzen Moment sah ich den Löwen. Er stand einfach nur da und starrte. Derweil hatte der König noch eine ganze Strecke zurückzulegen, und das wilde Tier wirkte nicht sonderlich beunruhigt.
Der König raste weiter, und ich sah, dass er Mühe hatte, die Kontrolle über seinen Streitwagen zu behalten und gleichzeitig einen Pfeil in seinen Bogen einzulegen. Jetzt drehte der Löwe sich um und begann zu rennen. Seine Schritte waren so lang und schwungvoll, dass es aussah, als würde er fliegen, in völlig durchgestreckter Körperhaltung, mit unglaublicher Geschwindigkeit, geradewegs auf die Sicherheit der dunklen Klippen zu. Ich peitschte mein Pferd voran und schloss dichter zum König auf. Ich war überzeugt, ihm würde einleuchten, dass keine Chance bestand, den Löwen unter diesen Bedingungen zu jagen. Aber da schoss sein Streitwagen mit einem Mal in die Luft, als sei er gegen einen Felsen geprallt, und knallte dann wieder auf die Erde zurück. Dabei zerbrach das linke Rad, löste sich, und die Speichen und Felgen barsten und flogen davon, und das Gefährt fiel auf die linke Seite. In wildem Tempo wurde es von den panischen Pferden über den unebenen Boden geschleift. Ich sah, wie der König sich entsetzt an der Seite des Streitwagens festklammerte. Doch schon im nächsten Moment flog sein Körper wie eine Stoffpuppe in die Luft und schlug mit voller Wucht auf dem Boden auf, drehte und drehte sich, immer und immer wieder, bis er regungslos in der Dunkelheit liegen blieb.
Ich riss an meinen Zügeln, und mein Streitwagen kam schlingernd zum Stehen. Ich rannte zum König. Er bewegte sich nicht. Ich sank neben ihm auf die Knie. Tutanchamun, das Lebende Abbild des Amun, gab Laute von sich, die zwar Worte zu formen versuchten, es aber nicht schafften. Er schien mich nicht zu erkennen. Da war Blut. Dunkel und glänzend bildete es im Staub der Wüste eine Pfütze.
Sein linker Oberschenkel stand in einem übelkeiterregenden Winkel über dem linken Knie. Vorsichtig schälte ich den blutdurchtränkten Stoff seines Gewandes von der Haut. Stücke zersplitterten Knochens stachen durch das zerfetzte Fleisch und die Haut. Die Wunde war grauenvoll tief und voller Kies und Dreck. Er stieß ein entsetzliches Stöhnen aus, das von akuten Schmerzen kündete. Ich goss Wasser aus meiner Feldflasche über die Wunde und wusch das dunkle, dicke Blut damit herunter. Ich hatte Angst, er würde sterben, hier und jetzt, mitten in der Wüste, unter dem Mond und den Sternen, während meine Hände seinen Kopf hielten wie ein Kelch aus Albträumen.
Simut stieß zu uns und warf nur einen Blick auf die katastrophale Wunde.
»Ich werde Pentu holen«, brüllte er mir zu. »Beweg ihn nicht.« Dann ritt er schon wieder davon.
Der Fährtenleser und ich blieben beim König. Vor Schock hatte dieser angefangen, auf das Heftigste zu zittern. Ich riss das Leopardenfell vom Boden seines Streitwagens und deckte ihn so vorsichtig wie möglich damit zu.
Er versuchte, etwas zu sagen. Ich senkte den Kopf, um seine Worte verstehen zu können.
»Es tut mir leid«, wiederholte er immer und immer wieder.
»Es ist nur eine Fleischwunde«, erwiderte ich, um ihn zu beruhigen. »Der Arzt ist schon auf dem Weg. Ihr werdet wieder ganz gesund.«
Wie aus weiter Ferne sah er mich an, gefangen in seiner Agonie, und da wusste ich: Er wusste, dass ich log.
Pentu kam und untersuchte zunächst den Kopf des Königs. Die Schwellungen auf der einen Seite des Gesichts rührten von Blutergüssen und langen Kratzern, doch blutete er weder aus der Nase noch aus den Ohren, sodass Pentu zu dem Schluss gelangte, dass der Schädel nicht gebrochen war. Das war zumindest schon mal etwas. Als Nächstes untersuchte er im Lichtschein unserer Fackeln die Wunde und den gebrochenen Knochen. Er blickte auf, sah Simut und mich an und schüttelte den Kopf. Nicht gut. Wir stellten uns etwas abseits, damit der König uns nicht hören konnte.
»Wir haben Glück, dass die Beinarterie nicht durchtrennt wurde«, erklärte er uns. »Er verliert aber trotzdem sehr viel Blut. Wir müssen die Fraktur sofort einrichten.«
»Hier draußen?«, fragte ich.
Er nickte.
»Bis das erledigt ist, darf er auf keinen Fall bewegt werden. Ich werde eure Hilfe brauchen. Dieser Knochen ist schwer einzurichten, denn es handelt sich um eine komplizierte Fraktur, und die Muskeln von Bein und Oberschenkel sind kräftig. Da der Knochen gesplittert ist, werden die Bruchstellen nicht richtig aufeinanderpassen. Wir können den König aber erst wieder bewegen, wenn das erledigt ist.«
Er schätzte den Winkel des zertrümmerten Knochens ab. Die Gliedmaßen Tutanchamuns sahen aus wie die Körperteile einer geschundenen Puppe. Pentu schob ihm ein zusammengerolltes Stück Stoff zwischen die klappernden Zähne. Dann hielt ich seinen Oberkörper und seinen Oberschenkel fest, Simut die andere Seite seines Körpers, und Pentu drückte mit geübtem Griff auf den Oberschenkelknochen und schob die gebrochenen Enden wieder zusammen. Das Geräusch, das das Einrichten verursachte, klang wie das Aneinanderreiben von Knorpel und erinnerte mich an meine Arbeit in der Küche, daran, wie es sich anhört, wenn ich eine Gazelle entkeule, indem ich den Beinknochen aus dem Hüftgelenk herausdrehe. Das hier war Metzgerarbeit. Im nächsten Moment übergab sich der König und verlor das Bewusstsein.