»Warum sollte ich dir irgendetwas sagen? Für mich ist es zu spät. Für dich ist es zu spät. Du hättest früher auf mich hören sollen. Ich werde nichts mehr sagen. Ich werde für immer schweigen.«
Ich wollte gerade darauf bestehen, dass sie sprach, als die Tür geöffnet wurde und der Oberste Einbalsamierer das Schlafgemach betrat. Er trug die schakalköpfige Maske des Anubis, des Totengottes, und wurde von seinen Gehilfen begleitet. Normalerweise hätte man den Leichnam aus den Gemächern heraus und in eine Einbalsamierungskammer geschafft, wo man ihn gewaschen, seine Organe entnommen, ihn mit Salz getrocknet und anschließend einbalsamiert und bandagiert hätte. Da Eje aber auf Geheimhaltung bestand, nahm ich an, er hatte befohlen, dass der Leichnam in den Gemächern verblieb. Ein Vorlesepriester begann, die ersten Anweisungen und Zaubersprüche zu verlesen, während die kleineren Angestellten des Einbalsamierers die erforderliche Ausrüstung in die Gemächer brachten – Instrumente, Haken, Obsidianklingen, Harze, Wasser, Salz, Palmwein, Gewürze und die vielen Stoffstreifen, die für den langwierigen Prozess vonnöten waren. Sie stellten das schräge, hölzerne Einbalsamierungsbrett auf vier Holzblöcke, hoben den Leichnam des Königs respektvoll vom Bett und legten ihn darauf. Sehr viel später im Verlauf des langen Rituals würde man den einbalsamierten Leib dann in ein Leichentuch hüllen und anschließend bandagieren; und dann würde man, weil dies hier ein König war, zwischen den einzelnen Lagen und in den Falten der feinen Leinenstreifen kostbarste Juwelen verstecken, Ringe, Armreife, Ketten und Amulette, von denen viele mit Zaubersprüchen beschriftet waren, die besonderen Schutz versprachen – denn jede Handlung musste sich genauestens an die Traditionen halten, wenn sie im Leben nach dem Tod einen Wert haben sollte. Schließlich würde man dem Leichnam die Totenmaske aufsetzen, damit der Mensch anhand dieses letzten Gesichts aus Gold zu erkennen war, was es seinem ka und seinem ba ermöglichte, sich in der Gruft wieder mit seinem Leib zu vereinigen.
Der Oberste Einbalsamierer stand am unteren Ende des Arbeitstisches und blickte auf den Leichnam des Königs nieder. Alles war bereit. Es konnte mit der Reinigung begonnen werden. Er wandte den Kopf in meine Richtung. Ich konnte das Weiß seiner Augen durch die eleganten Löcher in seiner schwarzen Maske sehen. Eine lähmende Stille machte sich breit, und seine Gehilfen drehten sich alle in meine Richtung und starrten mich an. Es war für mich an der Zeit zu gehen.
36
Ich klopfte an die Tür von Khays Amtsstube. Es dauerte nur einen Moment, und sein Gehilfe öffnete mir.
»Mein Herr ist beschäftigt«, erklärte er hektisch und versuchte, mir den Weg zu der Tür zu versperren, die in die eigentliche Amtsstube führte.
»Ich bin überzeugt, dass er für mich ein paar Sekunden seiner kostbaren Zeit wird erübrigen können.«
Ich durchquerte den Vorraum und betrat Khays Dienstzimmer. Sein knochiges Gesicht war gerötet. Er war völlig perplex und nicht nüchtern genug, um das zu überspielen.
»Der große Wahrheitssucher liefert einen grandiosen Auftritt …«
Auf seinem niedrigen Tisch sah ich einen vollen Becher Wein stehen und gleich daneben auf einem Sockel eine kleine Amphore.
»Es tut mir leid, Euch zu so später Stunde zu stören. Ich dachte, Ihr wäret vielleicht schon zu Hause, bei Eurer Familie. Habt Ihr ein Heim und eine Familie?«
Er schielte mich an.
»Was wollt Ihr, Rahotep? Ich bin beschäftigt …«
»Das sehe ich.«
»Einige wenige von uns sind immer noch bestrebt, kompetente Arbeit zu leisten.«
Ich ignorierte diesen Einwurf.
»Ich habe etwas Seltsames herausgefunden.«
»Wie erfreulich, dass der Herr Wahrheitssucher etwas herausgefunden hat …«
Sein Mund schien etwas schneller zu arbeiten als sein Verstand.
»Mutnedjmet wohnt auf dem Gelände dieses Palastes.«
Ruckartig hob er das Kinn, und seine Augen nahmen einen argwöhnischen Ausdruck an.
»Was hat das denn mit Eurer Aufgabe hier zu tun?«
»Sie ist Haremhabs Gemahlin und Anchesenamuns Tante.«
Er verzog das Gesicht und klatschte in die Hände.
»Wie akribisch Ihr doch die Ahnentafel studiert habt!«
Trotzdem war er plötzlich nervös, das vermochte seine Ironie nicht zu verbergen.
»Ihr könnt mir also bestätigen, dass sie hier im Palast festgehalten wird?«
»Wie ich bereits sagte, hat das mit Eurer Aufgabe hier nichts zu tun.«
Ich trat dichter an ihn heran. Die Haut um seine Augen war faltig und aufgedunsen und durchzogen von geplatzten Äderchen, die sacht pochten. Er alterte rasant; nicht mehr lange, und er sah aus wie ein Mann in mittleren Jahren. Der Stress, den seine gehobene Stellung mit sich brachte, trug nur noch weiter dazu bei, und er war nicht der Erste, der sich mit Wein darüber hinwegtröstete.
»Da bin ich gänzlich anderer Meinung, also beantwortet mir bitte meine Frage.«
»Ich bin nicht dazu da, mich von Euch verhören zu lassen.«
Jetzt wurde er aggressiv.
»Wie Ihr wisst, haben der König und die Königin mich befugt, meine Ermittlungen durchzuführen, gleichgültig, in welche Richtung sie mich führen«, erwiderte ich. »Und ich kann nicht verstehen, warum es da eine so große Sache sein sollte, mir eine schlichte Frage zu beantworten.«
Zunächst zögerte er noch, blinzelte mich an. Dann antwortete er:
»Sie wird nicht hier festgehalten, wie Ihr es ausgedrückt habt. Sie lebt in den königlichen Gemächern, hat dort ihren eigenen Wohnflügel und damit bis zu ihrem Lebensende ein bequemes und sicheres Zuhause.«
»Ich habe etwas anderes gehört.«
»Nun, die Leute reden Mist.«
»Wenn das alles so schön und einfach ist, warum hat mir dann noch niemand davon erzählt?«
»Ha! Ihr seid verzweifelt bemüht, irgendeine Richtung zu finden, in der Ihr Eure aussichtslosen Ermittlungen führen könnt. Nur ist das Ganze inzwischen mehr oder minder unsinnig geworden, und ich möchte Euch davon abraten, diese Richtung weiterzuverfolgen.«
»Warum?«
»Weil es nichts bringen würde.«
»Wie könnt Ihr da so sicher sein?«
»Sie ist eine arme geisteskranke Frau, die ihre Gemächer seit vielen Jahren nicht verlassen hat. Was könnte die wohl zu tun haben mit all diesem …«
Er drehte sich um. Seine Hände zitterten leicht, als er den Weinkelch hob und einen großen Schluck davon nahm.
»Bringt mich zu ihr. Jetzt.«
Er stellte seinen Kelch allzu schnell wieder ab, sodass etwas Wein auf seine Hand spritzte. Das schien ihn zu erzürnen, und statt die Tropfen abzuwischen, leckte er sie ab.
»Ermittlungstechnisch gesehen habt Ihr keinen Grund für so eine Unterredung.«
»Soll ich Eje oder die Königin mit meiner Bitte belästigen?«
Er zögerte.
»Wo gerade so viele andere, wirklich lebenswichtige und kritische Dinge anstehen, ist das Ganze einfach zu lächerlich, nur denke ich mir mal, wenn Ihr darauf besteht …«
»Dann lasst uns gehen.«
»Es ist schon spät. Die Prinzessin wird sich bereits zur Ruhe begeben haben. Morgen.«
»Nein. Jetzt. Wer weiß, wie lange geisteskranke Frauen aufbleiben?«
Wir machten uns auf den Weg durch die Korridore. Ich hoffte, mir die Strecke irgendwie einprägen zu können, als würde ich sie aus der Vogelperspektive sehen, um auf den Papyrus meiner Erinnerung einen entsprechenden Plan zu zeichnen, der mich in die Lage versetzen würde, die genaue Stelle, an der sich ihre Gemächer befanden, jederzeit wiederzufinden, sofern das nötig war. Aber das war nicht einfach, denn breite Korridore schrumpften zu sich windenden Gängen, die immer schmaler wurden. Wo gerade noch wunderschöne Gemälde von Papyrus-Marschen die Wände und Flüsse voller makelloser Fische den Boden unter unseren Füßen geziert hatten, waren jetzt profan gestrichene Gipswände und Böden aus gestampftem Lehm. Die Hauptkorridore säumten feingeschwungene Öllampen, hier hingen gewöhnliche Lampen, wie man sie in jedem leidlich anständigen Haus fand.