Er wusste, dass ich mit diesem Einwand richtig lag.
»Ich glaube, dass Ihr seinen Namen kennt«, sprach ich weiter. »Denn Ihr seid der Einzige, der ihn damals mit ihrer Pflege betraut haben kann.«
Er ließ sich das Ganze lange durch den Kopf gehen. Sich dazu äußern zu müssen schien ihm zutiefst zu widerstreben.
»Vor zehn Jahren habe ich einen Arzt zu ihrer Pflege abgestellt«, hob er schließlich an. »Er war mein Leibarzt gewesen. Nur erwies er sich als unfähig, mir zu helfen. Er war nicht qualifiziert genug und verfügte nicht über genug Kenntnisse, um mich von den Malaisen zu heilen, die mich befielen. Also ernannte ich Pentu zu meinem Leibarzt und gab dem Mann die Aufgabe, sich um Mutnedjmet zu kümmern. Das wurde unter der Hand arrangiert, und er wurde gut dafür bezahlt – sowohl für seine Arbeit als auch für seine unbedingte Diskretion. Seine Aufgabe bestand darin, sie für den Moment am Leben zu erhalten. Für den Fall, dass er seine Schweigepflicht bräche, drohten ihm schwere Strafen.«
»Und wie hieß der Mann?«
»Sein Name war Sobek.«
Meine Gedanken begannen zu rasen, rasten durch alles hindurch, was sich inzwischen ereignet hatte, und zurück zum Tag des Festes, zu dem Tag des Blutes, dem Tag, an dem wir in dem düsteren Zimmerchen den Jungen mit den gebrochenen Knochen gefunden hatten, dem Tag, an dem Nacht auf dem Dach seines Stadthauses die Party gegeben hatte. Ich erinnerte mich an den schweigsamen Mann fortgeschrittenen mittleren Alters, den Mann mit dem kurzen grauen Haar, das noch nie gefärbt worden war, und der knochigen, überschlanken Statur eines Menschen, der niemals etwas allein deshalb verzehrt, weil es einfach lecker ist. Ich erinnerte mich an dieses so überhaupt nicht markante, ja fast schon schlichte Gesicht – dieses leere Gesicht, wie Mutnedjmet es ausgedrückt hatte – und an seine gefühllosen, kalten, graublauen Augen, aus denen die Intelligenz stach und so etwas wie Zorn. Ich hörte, wie er sagte: »Vielleicht ist die menschliche Fantasie das Ungeheuer. Ich glaube, es gibt kein einziges Tier, das von seiner Fantasie gegeißelt wird. Das wird nur der Mensch …«
Und ich erinnerte mich, wie mein alter Freund Nacht, der, wie es sich jetzt darstellte, ein Kollege oder Bekannter dieses Meisters der Verstümmelung und des Mysteriums war, ihm antwortete: »Und das ist der Grund, warum ein zivilisiertes Leben, Moral, Ethik und so weiter so wichtig sind. Wir sind zur Hälfte Erleuchtete und zur Hälfte Ungeheuer. Unser Anstand muss auf Vernunft und gegenseitigem Nutzen fußen.«
Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie der grauhaarige Mann seinen Kelch hob und antwortete:
»Ich trinke auf die Vernunft. Ich wünsche ihr allen Erfolg.«
Sobek. Der Doktor.
»Ihr seht aus, als hättet Ihr ein Gespenst gesehen«, sagte Eje.
40
Simuts Elitesoldaten bezogen Stellung in den angrenzenden Straßen, die in tiefer Dunkelheit lagen, und auf den Dächern der Nachbarhäuser. Durch die nächtliche Ausgangssperre war es totenstill in der Stadt, wenn man von einigen Hunden absah, die sich unter dem Mond und den Sternen aggressiv durch die Dunkelheit anbellten.
Kheti hatte Thot mitgebracht, und der Pavian freute sich so sehr über unsere Wiedervereinigung, dass er mich umtänzelte und dabei leise vor sich hin brabbelte. Doch blieb uns nur wenig Zeit. Kheti und ich hatten wichtige Dinge zu besprechen. Auf dem Weg hierher hatte er mir rasch im Flüsterton erzählt, dass meine Familie in Sicherheit war und es allen gut ging; und dank Nachts Pflege hatte sich der Zustand des Jungen gebessert. Dann hatte er wissen wollen, wie ich herausgefunden hatte, dass Sobek unser Mörder war. Ich erklärte ihm alles.
»Dann haben wir es also geschafft«, meinte er begeistert.
»Leider nicht«, erwiderte ich.
Und nachdem er mir hatte schwören müssen, das Geheimnis niemandem zu verraten, erzählte ich ihm vom Tod des Königs. Das verschlug ihm die Sprache, was ja nicht häufig vorkam.
»Sag was, Kheti. Du gibst doch immer irgendeinen haarsträubend optimistischen Kommentar ab.«
Er schüttelte den Kopf.
»Hierzu fällt mir keiner ein. Das ist eine totale Katastrophe. Ein Desaster.«
»Vielen Dank.«
»Damit meine ich nicht, dass es deine Schuld war. Du hast alles getan, was man von dir verlangt hat. Du hast die Befehle befolgt, die der König dir persönlich gegeben hatte. Nur was wird jetzt aus uns? Es herrscht bereits Unruhe in der Stadt. Keiner weiß, was los ist. Es ist, als stünden die Beiden Länder am Rande des Abgrunds, und wir könnten jeden Moment in die Tiefe stürzen.«
»Es sind düstere Zeiten, Kheti. Aber sei nicht so melodramatisch. Das bringt nichts. Hat es in der Stadt noch weitere Morde wie die an dem Jungen und Neferet gegeben?«
Er schüttelte den Kopf.
»Soweit mir bekannt ist, nicht. Es wurde keiner gemeldet. Es ist überall sehr ruhig geworden. Das mit den Morden hat sich auf der Straße herumgesprochen, und schnell hat man auch in den Etablissements davon erfahren. Die Leute haben Angst bekommen. Vielleicht passen sie einfach besser auf.«
Das verwirrte mich.
»Aber ein Mörder wie dieser braucht ständig neue Opfer. Im Allgemeinen wird die Sehnsucht, wieder zu töten, mit jeder Tat größer. Das wird zu einer unstillbaren Gier. Dass er zwanghaft handelt, wissen wir. Womit befasst er sich also jetzt zwanghaft? Warum hat er mit dem Morden aufgehört?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht ist er abgetaucht.«
Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Hauses.
»Vielleicht ist er da drin. Vielleicht hast du ihn schon so gut wie geschnappt.«
»Beschrei es nicht«, erwiderte ich. »Bei so was werde ich abergläubisch.«
Sobeks Haus befand sich in einer guten Gegend, in einer Straße, in der ein unauffälliges Wohnhaus neben dem anderen stand. Seines unterschied sich in nichts von den anderen. Ich nickte Simut zu. Daraufhin gab er den Wachen, die auf den Dächern postiert waren, ein Zeichen, und sofort sprangen sie lautlos wie Mörder von einem Dach zum nächsten. Auf einen weiteren Handbefehl von ihm gingen die Soldaten, die uns eskortierten, mit Äxten auf die massive Holztür los. Es dauerte nicht lange, und sie hatten sie eingeschlagen. Ein paar Nachbarn, die der plötzliche Tumult aufgeschreckt hatte, tappten in ihren Nachtgewändern nach draußen, wurden aber in entschiedenem Ton angewiesen, zurück in ihre Häuser zu gehen. Ich lief voraus in die Eingangshalle, gefolgt von den Soldaten, die über Handzeichen miteinander kommunizierten, mit den Waffen im Anschlag ausschwärmten und jeden Raum besetzten. Andere kamen über das Dach ins Haus und sicherten die Räume im Obergeschoss. Alle Zimmer waren gleichermaßen uninteressant. Das Haus sah aus, als wohne ein alleinstehender Mann darin, denn die Möbel waren praktisch, die Dekoration war extrem bescheiden, und es fehlte der normale Müll des Alltags. Der Ort wirkte leblos. Im Obergeschoss standen Holzkisten, die brauchbare, aber biedere Kleidung und ein paar nichtssagende, alltägliche Schmuckstücke enthielten. Es war niemand da. Er war mir wieder entwischt. Wir hatten irgendetwas übersehen. Oder doch nicht? Es war, als hätte er gewusst, dass wir kommen würden. Und er hatte keine Spuren hinterlassen. Nur, wie hatte er das wissen können? Bitter enttäuscht ging ich durch die einzelnen Räume, suchte nach irgendetwas, was mich weiterbringen konnte.
Da ertönte plötzlich ein Ruf. Er kam von der Hinterseite des Hauses, von dem Gelände auf der anderen Seite des Innenhofes. Simut und seine Soldaten standen vor einer kleinen Tür, die aussah, als führe sie in einen Lagerraum. Die Seile waren verknotet, und zwar, wie es aussah, zu dem gleichen magischen Knoten, mit dem die Kiste verschnürt gewesen war, die die verwesende Totenmaske enthalten hatte. Auf dem Siegel war ein Zeichen, und das erkannte ich ebenfalls sofort wieder: ein dunkler Kreis. Die zerstörte Sonne. Euphorie machte sich in mir breit. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, durchschnitt das Seil mit meinem Messer, um den Knoten und das Siegel nicht zu zerstören, und dann drückte ich die Tür auf.