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Das Personal rannte konfus durch die Korridore wie Ameisen durch eine Kolonie, in der spielende Kinder mit Stöckchen herumgestochert hatten. Ich betrat die Gemächer der Königin, die sich angespannt mit Eje, Khay und Simut besprach.
Eje warf mir kurz einen Blick zu. Sein Gesicht war vor Müdigkeit eingefallen. Zur Abwechslung sah er mal beunruhigt aus.
Simut berichtete gerade über die Nachwehen der Sonnenfinsternis.
»In der Stadt ist es zu beträchtlichem Chaos gekommen. Vor den Tempeltoren haben sich Menschenmengen versammelt, die sich weigern, sich wieder aufzulösen. Es ist zu Plünderungen gekommen, Gebäude sind in Brand gesteckt worden … und ich muss dazu sagen, dass die Medjai die Situation nur noch weiter verschlimmert haben, indem sie versuchten, die Menschenmassen in den Griff zu bekommen. In einigen Stadtbezirken ist es zu Straßenschlachten mit regimekritischen Elementen gekommen und …«
»Das Volk ruft nach dem König«, fiel Khay ihm ins Wort. »Sie weigern sich zu gehen, bis der König erscheint und zu ihnen spricht.«
Eje saß ganz ruhig da und suchte so verbissen nach einer Lösung, dass ich meinte, sein Gehirn surren zu hören. Dadurch, dass er sich geweigert hatte, den Tod des Königs zu verkünden, saß er jetzt in der Falle. Gefangen im Netz seiner eigenen Lüge.
»Das ist nur eines unserer Probleme«, sagte Simut. »Haremhab wird die Gelegenheit nutzen, seine Divisionen in die Stadt zu holen, damit sie die Unruhen niederschlagen.«
»Und wo sind diese Divisionen?«, blaffte Eje.
»Soweit uns bekannt ist, sind sie in Memphis. Eindeutige Informationen unseres Geheimdienstes liegen uns dahingehend allerdings nicht vor«, gab er zu. »Selbst der schnellste Bote braucht mindestens drei Tage, um Befehle von hier nach Memphis zu bringen, und dann müssen sie mobil machen und nach Süden segeln. Es sei denn, Haremhab hat alles vorausgesehen und Divisionen bereitgestellt, die schneller Richtung Theben marschieren können.«
Es folgte eine Schweigeminute, die jeder in der Runde zum Anlass nahm, um sich zu überlegen, wie die wenige kostbare Zeit, die uns noch blieb, am besten genutzt werden konnte.
»Ich werde zum Volk sprechen«, sagte Anchesenamun auf einmal.
»Was willst du den Leuten denn sagen?«, erwiderte Eje. Mit einem Mal flackerte Neugier aus seinen bösen Augen.
»Ich werde ihnen die Wahrheit sagen. Ich werde ihnen sagen, dass das, was sich am Himmel zugetragen hat, ein Zeichen für die erneuerte Ordnung auf Erden war. Ich werde ihnen erklären, dass der König während der Finsternis mit dem Gott vereint wurde und jetzt im Totenreich wiedergeboren ist. Ich bleibe hier, als seine Nachfolgerin und mit seiner Billigung. Wenn ich das täte, würden wir damit jeden Versuch Haremhabs, nach der Macht zu greifen, im Keim ersticken.«
Sie sahen einander an, Widersacher, vereint durch zwingende Not.
»Du bist ein cleveres Kind. Das ist eine gute Geschichte. Nur wird sie viele misstrauisch stimmen.«
»Die Finsternis war ein großartiges und seltenes Ereignis. Es war ein beispielloses Spektakel, und das muss das Volk begreifen. Meine Worte werden die Menschen überzeugen müssen.«
Rasch überdachte Eje, welche Auswirkungen ihr Vorschlag haben konnte und welche Möglichkeiten er eröffnete.
»Du hast meine Unterstützung, aber Worte sind Macht und müssen sorgsam gewählt werden. Wenn du über dich selbst sprichst, würde ich statt ›Nachfolgerin‹ das Wort ›Stellvertreterin‹ vorziehen.«
Sie dachte darüber nach.
»Damit sind wir wieder bei dem Thema, über das wir uns nicht einigen können. Es bleibt uns nur wenig Zeit, und eine andere Lösung sehe ich nicht. Warum sollte ich mich nicht Nachfolgerin nennen? Das bin ich schließlich.«
»Das Blut deiner Ahnen fließt in deinen Adern. Nur vergiss nicht: Du kannst nicht regieren, ohne Macht über die Ministerien zu haben. Und die Macht habe ich.«
»In meinem Namen«, parierte sie sofort.
»Das stimmt. Und genau deshalb gilt es, eine Strategie zu entwickeln, die uns beiden zum Nutzen gereicht.«
Sie ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Sie musste sich schnell entscheiden.
»Gut.«
»Und der Inhalt der Rede wird zwischen uns abgesprochen?«, fragte er.
Sie sah Khay an, und der nickte.
»Selbstverständlich.«
»Dann bereite dich gut vor, denn dieser Auftritt ist der wichtigste deines Lebens.«
Kaum dass Eje fort war, sprang sie auf.
»Wo bist du gewesen?«, fragte sie gereizt und mit einem Anflug von Wut in der Stimme. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Ich war in der Stadt und habe meinen Freund Nacht besucht. Und auf dem Rückweg erhielt ich die Einladung zu einer Audienz bei Haremhab, die ich nicht ablehnen konnte.«
Sie wirkte erstaunt.
»Du hast sie angenommen?«
»Mir blieb kaum eine andere Wahl. Sie haben mich gefangen genommen.«
»Und was hat er zu dir gesagt?«
Wir setzten uns zusammen, und ich erzählte ihr, was ich alles über Sobek in Erfahrung gebracht hatte und dass ich jetzt durch den Zeugen, den Jungen, beweisen konnte, dass Sobek auch für die Morde in der Stadt verantwortlich war. Zu guter Letzt teilte ich ihr mit, was Haremhab zu mir gesagt hatte. Einen Moment lang wirkte sie verwundert.
»Wir müssen deine Familie vor ihm schützen.«
»Ja, aber wir müssen auch nachdenken. Bisher hat er nur Drohungen gegen sie ausgesprochen, und solange er nicht weiß, wie Ihr Euch entscheidet, wird er sie nicht in die Tat umsetzen. Derweil müssen wir Sobek schnappen, und was das angeht, habe ich einen Plan. Sobald wir uns den geschnappt haben, können wir ihn verhören und herausfinden, ob und wie Haremhab oder Eje in seine Taten verwickelt sind. Und diese Informationen werden Euch große Macht verleihen.«
Sie nickte, und aus ihren Augen strahlte das Feuer der Euphorie. Auf einmal sah sie für sich selbst und ihre Dynastie einen Weg in die Zukunft.
»Diese Finsternis hat mich geschockt. Ich fühle mich plötzlich, als würden die Götter mich beobachten. Als könnten sie in mein Innerstes blicken. Alles steht auf dem Spiel, nicht nur die Zukunft meiner Dynastie, sondern auch das Schicksal der Beiden Länder. Aber seltsamerweise fühle ich mich zum ersten Mal seit vielen Monaten – richtig lebendig.«
Rauch wehte über das riesige freie Gelände vor dem Tempel. Die Menschenmassen reichten bis zur Straße der Sphingen. Einige sangen, andere brüllten, die meisten beteten. Ich beobachtete sie vom Dach des Tempeltores. Schnell und unbemerkt waren wir zunächst per Schiff und dann per Streitwagen unter dem Schutz von Simuts Wachen zum Tempel gelangt. Jetzt hoben die Trompeter auf sein Zeichen ihre langen, silbernen Instrumente Richtung Horizont und bliesen eine Fanfare. Schlagartig verwandelte sich die chaotische Unzufriedenheit der Massen in Aufmerksamkeit. Das Spektakel, nach dem sie verlangt hatten, begann.
Die Königin trat aus dem Tor. Sie trug die goldenen Staatsgewänder und die Kronen, und als deutlich wurde, dass sie allein war, wurde aus der Stille ein einziges Kreischen und Brüllen. Doch sie strahlte förmlich in den langen, flachen Schatten des frühen Abends. Sie lief weiter nach vorn, bestieg das Podest, ignorierte das Jammern und Klagen, stand einfach nur da und stellte sich dem großen Biest der Massen. Sie wartete darauf, dass man sie sprechen ließ. Wer den stärkeren Willen hatte, würde siegen. Endlich wurde es still. Ich sah Tausende von Gesichtern; verzückt, verängstigt, treu ergeben sahen sie, wie sie da stand in all ihrer Pracht.
»Dies ist ein Tag der wundersamen Omen gewesen«, rief sie in die Menge. »Die Götter haben sich uns offenbart. Wir wollen zu ihnen beten.«
Anmutig hob sie die Arme, und nicht lange, und viele folgten ihrem Beispiel. Und jene, die es nicht taten, waren zumindest zum Schweigen gebracht.