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»Was hat er denn, was ich haben will?«, fragte ich langsam nach.

Auf einmal konnte sie mir nicht mehr in die Augen sehen und begann wie wild zu zucken.

»Deinen Sohn«, wisperte sie.

47

Ich rannte durch die Schatten der Nacht. Thot lief an meiner Seite. Kheti folgte uns vielleicht. Ich drehte mich nicht um. Die Geräusche meiner Sandalen, die über den staubigen Boden stampften, meines Blutes, das mir durch den Schädel rauschte, und meines Herzens, das im Käfig meiner Brust wie wild hämmerte, drangen wie aus weiter Ferne zu mir.

Das Haus war bewacht worden. Kheti hatte Tanefert angewiesen, die Kinder unter keinen Umständen nach draußen zu lassen oder irgendjemandem die Tür zu öffnen. Das Haus sollte aussehen, als sei es zugesperrt. Wie war es Sobek also gelungen, ihn zu entführen? Ich stellte mir vor, wie Tanefert sich grämte, die Kinder in Panik waren. Und ich war nicht da, um sie zu retten. Was, wenn das Ganze ein Bluff war? Was, wenn es kein Bluff war? Ich rannte nur noch schneller.

Er wollte sich in den Katakomben mit mir treffen. Ich musste allein kommen. Wenn ich jemanden mitbrachte, würde der Junge sterben. Ich musste das Halluzinogen mitbringen. Wenn ich das nicht tat, würde der Junge sterben. Wenn ich mit irgendjemandem über die Sache sprach, würde der Junge sterben. Ich musste allein kommen.

Ich erreichte den Hafen, riss das erstbeste Schilfboot aus seiner Verankerung und begann, wie ein Wahnsinniger über den Großen Fluss zu paddeln. Dieses Mal scherten mich die Krokodile nicht. Der Mond war ein weißer Stein. Das Wasser war schwarzer Marmor. Ich glitt über die spiegelglatte Fläche aus Schatten, als sei ich eine winzige Statue meiner selbst, die in Begleitung von Thot auf einem Spielzeugboot die Wasser des Todes überquerte, um Osiris gegenüberzutreten, dem Gott der Unterwelt.

Am Westufer angekommen rannte ich weiter, und die Luft kühlte sich ab, als ich die Westgrenze der Anbauflächen überquerte. Jetzt war ich ein Tier, all meine Sinne waren geschärft, ebenso meine Rachegelüste. Ich war in eine neue Haut geschlüpft, und sie hatte die Farbe des Zorns. Die Zähne in meinem Kiefer fühlten sich an, als seien sie scharf wie Edelsteine. Doch raste mir die Zeit davon, denn ich hatte gewaltige Entfernungen zurückzulegen und Angst, zu spät zu kommen.

Ich hörte erst auf zu rennen, als ich den Eingang zu den Katakomben erreichte. Ich blickte nieder auf Thot, der mit mir Schritt gehalten hatte. Heftig hechelnd schaute er zu mir auf. Mit wachem und intelligentem Blick. Ich legte ihm den Maulkorb an, damit er nicht anschlug. Er verstand. Ich war zwar nicht allein gekommen, aber er würde still sein. Dann nahm ich einen letzten Atemzug der frischen Nachtluft, und wir schritten unter dem mit uralten Ornamenten verzierten Türsturz hindurch und stiegen die Stufen hinab, die in die Finsternis jenseits aller Finsternis führten.

Wir gelangten in ein niedriges Gewölbe. Ich horchte in die monumentale Stille. In derart heiliger Stille hielt man es für möglich, hören zu können, wie die Toten keuchten, wenn sie zu Staub zerfielen, oder uns mit Seufzern zu überreden versuchten, ihnen im Reich der Toten Gesellschaft zu leisten, um ihre Wonnen mit uns zu teilen. Irgendjemand hatte eine Wandleuchte für mich angezündet. Sie brannte reg- und lautlos, unbeeindruckt von den Strömen der Luft oder der Zeit. Ich nahm sie in die Hand und lief los. Überall gingen Tunnel ab, verzweigten sich unergründlich in alle Richtungen, und jeder dieser Tunnel führte in tiefe, niedrige Kammern, in denen sich vom Boden bis zur Decke Tontöpfe in allen nur erdenklichen Formen und Größen stapelten. Es mussten Abermillionen sein, und alle enthielten sie die einbalsamierten Gebeine von Ibissen, Falken und Pavianen … Thot, der von den Gebeinen seiner Spezies umgeben war, schnupperte die Friedhofsluft und spitzte die Ohren, um auch den leisesten Laut zu vernehmen – eine Sandale, die über den staubigen Boden schritt, Stoff, der raschelnd über die Haut eines Menschen strich –, Dinge, die ich nicht wahrnehmen konnte, die ihm aber sofort signalisieren würden, ob Sobek und mein Sohn in der Nähe waren.

Im nächsten Augenblick hörten wir beide etwas: den Schrei eines verlorenen Kindes in Not, der kläglich aus den Tiefen der Katakomben schallte. Die Stimme meines Sohnes … nur woher kam sie? Thot zerrte plötzlich an seiner Leine, und zusammen mit unseren Schatten, die uns im Lichtschein unserer Lampe begleiteten, folgte ich ihm in gebückter Haltung in den Gang, der sich zu unserer Linken auftat. Der Tunnel verlief abschüssig. Weitere Tunnel gingen davon ab, verzweigten sich in verschiedene Richtungen und in unendliche Dunkelheit. Wo war er? Wie sollte ich ihn retten?

Dann hörten wir wieder einen schrillen, lauten Schrei, nur kam er dieses Mal aus einer anderen Richtung. Thot drehte sich um und zog an der Leine, zwang mich, ihm zu folgen. Er führte mich in einen Seitengang, der sich am Ende in zwei weitere teilte. Hochkonzentriert horchten wir, jeder unserer Sinne war geschärft, jeder Muskel angespannt. Es folgte erneut ein Schrei, und zwar von rechts. Wir hasteten in den entsprechenden Gang und vorüber an weiteren Kammern, die mit Töpfen vollgestopft waren. Diese hier sahen aus, als stünden sie schon sehr lange dort, denn die meisten waren zertrümmert, sodass in bizarrem Winkel Knochen und Schädelteile aus ihnen herausragten.

Jeder weitere Schrei, der ertönte, führte uns tiefer und tiefer in die Katakomben. Dadurch wurde mir bewusst, dass es, selbst wenn ich meinen Sohn retten konnte, nahezu unmöglich sein würde, jemals wieder hier hinauszufinden. Und mein nächster Gedanke war: Das ist ein Spiel. Er lockte mich in die Falle. Ich blieb stehen. Als der nächste Schrei ertönte, rief ich laut: »Ich werde nicht weitergehen. Komm zu mir. Zeige dich.«

Meine Stimme schallte durch die Gänge, hallte von den Wänden des Labyrinths wider, dann verstummte sie. Umzingelt von unendlicher Finsternis standen Thot und ich im schwachen Lichtkegel unserer Lampe da und warteten. Zunächst geschah nichts. Aber dann schimmerte plötzlich etwas in der Dunkelheit. Es war unmöglich abzuschätzen, wie nah oder wie weit entfernt dieser winzige Lichtpunkt war. Wir konnten aber sehen, dass er größer und größer wurde, und als er schließlich die Wände des Ganges erhellte, sah ich in seiner Mitte einen Schatten. Er bewegte sich auf uns zu.

48

Er trug die schwarze Schakalmaske des Anubis, des Wächters der Nekropole. Seine bemalten Zähne strahlten weiß in die Dunkelheit. An seinem Hals sah ich eine Zeremonialkette aus Gold.

»Du hast deinen Pavian mitgebracht«, sprach er mit leiser, tonloser Stimme.

»Er hat darauf bestanden, deine Bekanntschaft zu machen.«

»Er ist Thot, Protokollant des Totengerichts. Vielleicht hat er sich damit einen Platz in unserer Runde verdient«, erwiderte er.

»Nimm die Maske ab, Sobek, und schau mir in die Augen«, sagte ich.

Meine Worte schallten durch die riesigen Katakomben, sodass ihre Labyrinthe aus Finsternis und Schweigen mir vorkamen wie das gewaltige Ohr der Götter. Belauschten sie jedes Wort? Langsam zog er die Maske herunter. Endlich standen wir einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Hasserfüllt starrte ich in seine steingrauen Augen.

»Du hast meinen Sohn, und ich will ihn zurückhaben«, sagte ich. »Wo ist er?«

»Er ist hier, ich habe ihn gut versteckt. Ich werde ihn dir zurückgeben. Aber vorher musst du mir etwas geben.«

»Ich habe es bei mir, aber ich werde es dir erst aushändigen, wenn ich meinen Sohn wiederhabe und ihn in Sicherheit weiß.«

»Zeig es mir.«

Ich hielt den Lederbeutel hoch, damit er ihn im Licht der Lampe sehen konnte. Gierig schaute er darauf.