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Die Entdeckung der Grabkammer hatte zur Folge, dass die weitverbreitete Begeisterung für Ägypten einen neuen Aufschwung erlebte. Allerdings fokussierte man sich dabei auf okkulte Geheimnisse diverser Pyramiden und Grabkammern sowie auf Mumien, über deren Flüche zweitklassige Spielfilme gedreht wurden, statt einen ausgewogeneren Blick auf diese bemerkenswerte Kultur zu wagen. Für Tutanchamun waren die Pyramiden beispielsweise schon ebenso uralt, wie für uns heutzutage Stonehenge uralt ist.

Historiker und Archäologen, die sich mit der Antike befassen, haben uns eine Vielfalt an Informationen über das alte Ägypten und vor allem über das Neue Reich beschert. Zu Beginn der 18. Dynastie war Ägypten das mächtigste, reichste und kultivierteste Reich, das es in der Antike je gegeben hatte. Die Gesellschaft war höchst komplex und äußerst gut organisiert, errichtete erstaunliche Bauwerke, erschuf grandiose Kunstwerke, Kunstobjekte und Juwelen, und zugleich erhielt sie sich ihre Vorrangstellung auf dem Parkett der internationalen Macht und ermöglichte ihrer Elite ein Leben in Luxus und Wohlstand – alles auf dem Rücken einer sich zu Tode schuftenden Arbeiterschaft. Jenseits seiner Landesgrenzen regierte und verwaltete Ägypten ein enormes Territorium, das sich vom Dritten Nilkatarakt im Gebiet des heutigen Sudan durch einen Großteil des Morgenlandes erstreckte. Ägyptens Handelsrouten für seltene Güter und für Arbeitskräfte reichten noch wesentlich weiter. Das Land hatte eine moderne Armee, die von General Haremhab geführt wurde, eine extrem mächtige Priesterschaft, die einen großen Teil des Land- und Geldbesitzes verwaltete und persönlich davon profitierte, und daneben hatte es eine hochentwickelte Beamtenschaft sowie etwas, was mit einem nationalen Polizeiapparat zu vergleichen ist: die Medjai.

Ursprünglich waren die Medjai nubische Nomaden. Zu Zeiten des Mittleren Reiches schätzten die Ägypter nicht nur deren militärische Fähigkeiten und setzten sie als Vorhut und Fußsoldaten ein, sie machten sich auch deren Kundschafter-Talente zunutze, mit denen sie, vornehmlich an den Grenzen, Fremde ausspionierten. Zu unserem Glück war das alte Ägypten eine bürokratische Kultur, und ein Bericht aus dieser Zeit existiert heute noch: »Der Spähtrupp, der ausgesandt wurde, um am Wüstenrand auf Patrouille zu gehen … ist zurückgekehrt und hatte mir Folgendes zu berichten: ›Wir haben die Spuren von 32 Menschen und 3 Eseln gefunden.‹« (Kemp, 2006). Zu Beginn der 18. Dynastie hatte der Begriff Medjai eine breitere Bedeutung und beschrieb die Anfänge eines städtischen Polizeiapparats. Ihr wurden massive Korruption und kriminelles Verhalten nachgesagt – nicht nur während der Zeit des Neuen Reiches, auch davor und danach –, und das verfügbare Beweismaterial hat mich auf einen Polizeiapparat schließen lassen, der mit einem modernen unserer Zeit zu vergleichen ist, über eine steile Hierarchie verfügt, unabhängig von jeder anderen Obrigkeit arbeiten will und selbstverständlich unter seinen Kriminalbeamten oder »Wahrheitssuchern« auch keine Freidenker duldet wie Rahotep, der von allen Wahrheitssuchern der Beste ist.

Ermöglicht wurden die irdische Macht, die Leistungen und Triumphe des Neuen Königreiches Ägypten von den lebensspendenden Wassern des Nils, des Großen Flusses, durch den sich bei den alten Ägyptern die »Beiden Länder« definierten: das Schwarze Land, das aus der enorm fruchtbaren Erde zu beiden Seiten des Nils bestand, und das Rote Land, die scheinbar endlose Wüste, die sie umringte und all die Dinge repräsentierte, vor denen sie sich fürchteten: Unfruchtbarkeit, Chaos und Tod. Der immerwährende Zyklus – die tägliche Wiedergeburt der Sonne im Osten, ihr Untergang im Westen und ihre geheimnisvolle nächtliche durch das gefährliche Terrain des Jenseits – inspirierte sie zu ihrer herrlichen, so komplexen Religion.

Wir wissen, dass Tutanchamun den Thron erbte, als er gerade mal acht oder neun Jahre alt war. Wir wissen, dass Eje – im Grunde als Kanzler – in seinem Namen regierte. Und wir wissen, dass Tutanchamun in einer turbulenten Zeit geboren wurde und aufwuchs. Die Schwierigkeiten seiner Regierungszeit waren das Erbe seines Vaters Echnaton. Die Einführung oder Auferlegung von Echnatons und Nofretetes revolutionärer Aton-Religion und die Gründung der neuen Tempel-Hauptstadt Achet-Aton (das heutige Amarna) führten zu einer tiefgreifenden Krise in Politik und Religion, die ich in Nofretete: Das Totenbuch behandelt habe. Da mächtige Lager um Macht und Einfluss kämpften, wurde nach dem Ende von Echnatons Herrschaft die alte orthodoxe Religion wieder eingeführt. Ein deutliches Anzeichen dafür, welche Auswirkungen diese druckvolle Ära der Reform auf Tutanchamun hatte und auf die politische Notwendigkeit, dass er sich von der Herrschaft seines Vaters distanzierte, war, dass er seinen Namen Tutanchaton (»Lebendes Abbild des Aton«) änderte und den Namen des Amun, »des Verborgenen« wieder einführte, des allmächtigen Gottes, dessen Tempelanlage in Karnak bis zum heutigen Tag als eines der größten Monumente der Antike gilt.

Die alten Ägypter fürchteten nichts so sehr wie das Chaos. Sie sahen in den Kräften des Chaos eine konstante Bedrohung der irdischen und überirdischen Ordnung und der Werte Schönheit, Gerechtigkeit und Wahrheit. Die Göttin Maat, die als sitzende Frau mit einer Straußenfeder in der Hand dargestellt wurde, stellte sowohl auf kosmischer Ebene Ordnung her – in den Jahreszeiten und Gestirnen –, als auch auf gesellschaftlicher Ebene – in den Beziehungen zwischen den Göttern, in Person des Königs, und den Menschen. Eine plastische Beschreibung des Chaos, das zurzeit von Tutanchamuns Krönung herrschte, wurde auf der Restaurationsstele festgehalten (einer Steinplatte mit Inschriften), die in den frühen Jahren seiner Herrschaft im Tempelbezirk von Karnak aufgestellt wurde. Zum Teil diente sie natürlich reiner Propaganda; doch beschreibt sie unglaublich lebendig, in welchem Zustand die Welt vor Tutanchamuns Thronbesteigung war. (Ein Auszug aus dem Text steht am Anfang dieses Buches.) Die Pflicht des neuen Königs, wie für alle Könige vor ihm, war es, in den Beiden Ländern Maat wiederherzustellen; wie die Stele beteuert: »Er hat das Chaos aus dem gesamten Land vertrieben … und das gesamte Land wieder zu dem gemacht, was es zum Zeitpunkt der Schöpfung war.«

Es sind nur wenige glaubwürdige Details über die Lebensgeschichte Tutanchamuns bekannt, und die meisten Berichte sind lediglich Interpretationen von Bruchstücken oftmals höchst zweifelhafter Informationen. Viele spannende Rätsel bleiben ungelöst. Wie und warum ist Tutanchamun so jung gestorben? Computertomografien, die unlängst an der Mumie vorgenommen wurden, haben die alte Theorie widerlegt, nach der ihn ein Schlag auf den Hinterkopf getötet hatte. Die neuen wissenschaftlichen Beweise deuten auf ein gebrochenes Bein und Sepsis. Falls das der Wahrheit entspricht: Wie ist das passiert? War es ein Unfall? Oder ist er einem finsteren Verbrechen zum Opfer gefallen? Wir können nach wie vor nur raten, warum die Beisetzungsarrangements so seltsam übereilt getroffen wurden, wie es den Anschein hat – die Grabmalereien sind primitiv und noch nicht fertig, das Grabmobiliar wirkt zusammengewürfelt, Teile des goldenen Schreins wurden beschädigt, als man sie zusammensetzte, und die beiden mumifizierten Föten, die mit ihm beigesetzt wurden, sind nicht gekennzeichnet. Warum war der Wein alt, und warum befanden sich so viele Gehstöcke in der Grabkammer? Welche Rolle spielte seine Gemahlin Anchesenamun, die zugleich seine Halbschwester war und die Tochter der großen Königin Nofretete und Echnatons? Welchen Machtanspruch hatte Eje, und unter welchen Umständen wurde er der nächste König? Und wo war der so mächtige Haremhab in dieser merkwürdigen, dunklen Zeit?

Der große Poet Robert Graves hat einmal geschrieben, dass seine historischen Romane Versuche seien, geheimnisvolle historische Rätsel zu lösen. Es gibt nicht mehr viele Rätsel der Geschichte, die noch größer sind als das Leben und der Tod Tutanchamuns, und dieser Roman ist mein Versuch, mit Fantasie, möglichst akkurater historischer Recherche und dem Bestreben, diese schon seit so langer Zeit toten Personen in ihrer damaligen Gegenwart als lebendige Menschen darzustellen, eine Lösungsmöglichkeit für das Mysterium anzubieten, das diesen jungen Mann umrankt, der für kurze Zeit die Geißel und den Krummstab irdischer Macht in seinen Händen hielt und dann völlig vergessen wurde bis zu jenem Tag im Jahre 1922, als man die Siegel seiner Grabkammer brach. Als man ihn fragte, ob er irgendetwas sehen könnte, sprach Howard Carter die berühmten Worte: »Ja … wundervolle Dinge!« Jeder, der seit damals auf Tutanchamuns goldene Totenmaske geschaut hat, erinnert sich an die Augen: Aus Quarz und Obsidian gefertigt und mit Lapislazuli verziert, scheinen sie die kleinen Sterblichen nicht anzusehen, die sich staunend an ihnen vorüberschieben, sondern durch sie hindurchzublicken, in weite Ferne. Als schauten sie ins Licht der Ewigkeit.