»Du willst also weiter an dem Land da herumschnüffeln — ungeachtet der Risiken?«
»Ja.«
»Warum?«
»Du weißt, warum.«
Ein, zwei Herzschläge lang schwieg Lawler. »Ja richtig«, sagte er dann. »Es war mir für den Moment nicht mehr gegenwärtig. Die Engel, das Paradies… Wie habe ich nur vergessen können, daß ja du es warst, der Delagard überhaupt erst dazu ermuntert hat, hierher zu segeln. Und zwar aus puren egoistischen Gründen, die überhaupt nichts mit den seinen zu tun haben!« Lawler wies mit einer verächtlichen Handbewegung auf das wilde Kreisen und Brodeln der Vegetation über der Meerenge auf der Küste. »Hältst du das da drüben immer noch für das Land der Engel? Der Götter?«
»Gewissermaßen, ja.«
»Und du glaubst auch immer noch, du kannst dir da drüben irgendwie so was wie deine persönliche Erlösung ergattern?«
»Ja.«
»Erlöst durch das da? Blitze und Donner? Lichtspiele und Lärm?«
»Ja.«
»Du bist ja noch verrückter als Delagard.«
»Ich kann verstehen, warum du das denken mußt«, sagte der Priester.
Lawler lachte scharf auf. »Ich seh euch beide schon Seite an Seite in die unterseeische Stadt der Super-Gillies einmarschieren. Er schwingt eine Gaffel, du ein Kreuz, und ihr singt Litaneien, du in einer Tonart, er in einer anderen. Und die Gillies kommen lammfromm an und knien vor euch nieder, und du taufst sie einen nach dem anderen, und dann erklärst du ihnen, daß Delagard von nun an ihr König ist…«
»Lawler, ich bitte dich!«
»Bittest — um was? Soll ich dir den Kopf tätscheln und dir sagen, wie ungeheuer beeindruckt ich von deinen abgründigen, abgefeimten Ideen bin? Und danach soll ich dann wohl runtergehen und Delagard danken für seine göttlich inspirierte Führerschaft? Nein, lieber Father, ich befinde mich auf einem Schiff, das unter dem Kommando eines Geisteskranken steht, der mit deinem sträflichen Zutun uns alle an den aberwitzigsten und gefährlichsten Ort auf diesem Planeten gebracht hat, und mir gefällt das nicht, und ich will weg von hier.«
»Wenn du doch nur willens sein könntest, zu erkennen, was das ANTLITZ uns zu bieten hat…«
»Ich weiß, was es zu bieten hat. Den Tod, Father Quillan. Tod durch Verhungern. Verdursten. Oder schlimmer. Siehst du die Lichter da drüben blitzen? Spürst du das ungewöhnliche elektrische Prickeln? Mir kommt das nicht sehr freundlich vor. Eher todbringend. Ist das deine Vorstellung von der Erlösung? Das Sterben?«
Quillan warf ihm aus glühenden Augen einen überraschten Blick zu.
»Aber stimmt es nicht, daß deine Kirche den Selbstmord für eine der allerschwersten Sünden hält?«
»Du sprichst von Selbstmord, nicht ich.«
»Ja. Aber du bist derjenige, der den seinigen plant.«
»Du begreifst ja gar nicht, was du damit sagst, Lawler. Und in deiner Unwissenheit verzerrst und verdrehst du alles.«
»Ach? Ich?« fragte Lawler. »Tu ich das wirklich?«
8
Am späten Nachmittag desselben Tages gab Delagard Order, den Anker zu lichten, und sie fuhren weiter gen Westen die Küste entlang. Es ging ein heißer steter Wind landwärts, als versuchte die riesige Insel sie zu sich zu holen.
»Val?« rief Sundira von oben. Sie hing direkt über ihm in der Takelung und machte die Stagen an der Vorderrah fest.
Er schaute zu ihr hinauf.
»Wo sind wir, Val? Was wird mit uns passieren?« Sie fröstelte in der tropischen Wärme. Beklommen spähte sie zur Insel hinüber. »Es sieht so aus, als wäre meine Vermutung von irgendeiner nuklearen Verwüstung falsch gewesen. Trotzdem sieht es da drüben zum Fürchten aus.«
»Ja.«
»Und dennoch zieht es mich da irgendwie hin. Ich will noch immer wissen, was da wirklich ist.«
»Etwas Übles, das ist es«, sagte Lawler. »Und das kannst du schon von hier aus erkennen.«
»Es war doch so einfach für uns zwei, das Schiff an die Küste laufen zu lassen. Du und ich, Val, wir könnten es gleich jetzt machen, nur zu zweit…«
»Nein!«
»Aber warum denn nicht?« Ihre Frage klang allerdings nicht sehr bestimmt. Sie schien gegenüber der Insel ebenso mißtrauisch zu sein wie er. Ihre Hände zitterten so stark, daß sie ihren hölzernen Hammer fallen ließ. Lawler fing ihn und warf ihn ihr wieder hinauf. »Was würde mit uns passieren, was meinst du, wenn wir dichter an die Küste gingen?« fragte sie. »Rauf auf das Flache selber?«
»Das laß jemand anders für uns rausfinden«, sagte Lawler grob. »Soll doch Gabe Kinverson da rübergehen, wenn er den Mut hat. Oder unser Father Quillan. Oder Delagard. Das hier ist Delagards Picknick — also soll er doch das Vergnügen haben und als erster an Land steigen. Ich bleib hier und schau mir an, was geschieht.«
»Klingt vernünftig, denk ich. Und trotzdem… trotzdem…«
»Du fühlst dich verlockt.«
»Ja.«
»Es geht ein Sog aus, nicht? Ich spüre ihn auch. Ich höre in meinem Innen etwas sagen wie: Nur zu, komm rüber, schau es dir an, was es da gibt. Es gibt auf der ganzen Welt nichts Vergleichbares. Das mußt du dir anschauen. Aber es ist ein verrückter Gedanke.«
»Ja«, sagte Sundira leise. »Du hast recht. Es ist verrückt.«
Dann schwieg sie und konzentrierte sich auf die Ausbesserungsarbeiten. Dann kam sie auf seine Höhe heruntergeklettert. Lawler berührte ihre nackte Schulter sacht mit den Fingerspitzen. Sie gab einen weichen Laut des Wohlbehagens von sich und kuschelte sich an ihn. So schauten sie zusammen auf die farbensprühende See hinaus, auf die verquollene untergehende Sonne und den bestürzenden Lichterdunst, der von der Insel drüben aufstieg.
»Val, kann ich heut nacht bei dir in deiner Kabine bleiben?« bat sie.
So etwas war noch nicht oft und nun schon seit längerem nicht mehr geschehen. Zu zweit waren sie einfach für den engen Raum und die schmale Koje zuviel.
»Aber gern.«
»Ich lieb dich, Val.«
Lawler ließ die Hände über ihre kräftigen Schulterblätter gleiten bis hinauf in den Nacken. Er fühlte sich stärker zu ihr hingezogen als je zuvor: Fast als wären sie zwei getrennte Hälften eines zerteilten Organismus und nicht bloß zwei Halbfremde, die der Zufall auf einer seltsamen Reise zu einem gefährlichen Ort zueinander getrieben hatte. War es diese Gefahr, überlegte er, die uns einander näherbrachte? War es — Gott behüte — die aufgezwungene Nähe mitten auf dem Ozean, die mich ihr gegenüber so schutzlos macht und so begierig darauf, sie dicht bei mir zu haben?
»Ich lieb dich«, flüsterte er.
Sie stürzten zu seiner Kabine hinunter. Noch nie hatte er sich Sundira so nahe gefühlt… noch nie irgendeinem Menschen sonst. Sie waren Verbündete, nur sie und er, allein gegen ein wirbelndes, verwirrend rätselhaftes Universum. Und sie hatten nur einander als Halt gegen dieses rätselhafte ›Antlitz‹, das sie in seinen Bann zu ziehen drohte.
Die Nacht war kurz; ineinander verschlungene Arme und Beine, schweißnasse nackte Haut, Körper die glitschig in- und umeinander glitten; immer wieder die Augen, die sich suchten, das Lächeln, das im Gesicht des anderen die lächelnde Antwort auslöste; die Atemströme, die sich mischten, leise gehauchte Worte, ihr Name aus seinem Mund, seiner von ihren Lippen; dann der Tausch von Erinnerungen; und die neuen Erinnerungen, die sie sich schufen. Sie schliefen keine Minute. Aber das macht gar nichts, sagte sich Lawler. Der Schlaf kann leicht neue Spukträume heraufbeschwören. Besser wir bringen diese Nacht wachend zu. Und in leidenschaftlicher Lust. Vielleicht ist morgen unser letzter Tag.
Im Morgengrauen stieg er an Deck. In den letzten Tagen war er zur Frühwache eingeteilt gewesen. Im Verlauf der Nacht, erkannte Lawler, war das Schiff wieder durch die Brecher landwärts vorgedrungen und ankerte nun in einer Bucht, die der ersten ziemlich ähnlich sah; allerdings wies die Küste keine Berge auf, nur flache Matten voll dicht wachsender dunkler Vegetation.