»Gütiger Himmel«, stammelte Delagard mit einem vor ärgerlicher Hilflosigkeit und Zorn rot und bleich gefleckten Gesicht. »Was quasselst du denn da? Wenn du da rübergehst, stirbst du. Kapierst du das nicht? Da drüben kann man nicht leben. Schau doch nur, das ganze Licht, das von allem strahlt. Der ganze Ort ist Gift. Also, laß den Quatsch, ja? Komm zu dir!«
»Der Gott im Antlitz…«
Quillan versuchte Delagards Griff abzuschütteln, was ihm auch kurz gelang. Er tat gleitend zwei Schritte auf die Reling zu. Dann hatte Delagard ihn wieder im Griff, riß ihn heftig an sich und schlug ihn dermaßen hart ins Gesicht, daß die Lippe aufplatzte und zu bluten begann. Benommen starrte der Priester ihn an. Delagard hob erneut die Hand.
»Nicht!« sagte Lawler. »Er kommt schon wieder zurück.«
Tatsächlich ging eine Veränderung in Quillans Augen vor. Das Glühen verschwand, auch der starre Ausdruck der Trance. Er wirkte nun benommen, aber doch bei vollem Bewußtsein und bemüht, seine Verwirrung abzuschütteln. Bedächtig rieb er über die Stelle, an der Delagard ihn ins Gesicht geschlagen hatte. Dann schüttelte er den Kopf. Die Bewegung breitete sich aus, und der ganze hagere Leib wurde von einem krampfartigen Zucken erfaßt. Dann begann er zu zittern. In seinen Augen standen Tränen.
»Mein Gott! Ich wollte wirklich dort hinübergehen. Das hab ich doch versucht, ja? Es hat mich gezogen. Ich habe es gefühlt, wie es an mir zerrte.«
Lawler nickte. Auch er glaubte plötzlich, daß er dieses Zerren verspürte. Eine Schwingung im Bewußtsein, ein pochendes Pulsieren. Etwas weit Stärkeres als ein verlockender Drang oder das sachte Zupfen der Neugier, wie Sundira und er es in der letzten Nacht wahrgenommen hatten. Nein, dies hier war ein starker mentaler Druck, ein Zwang, der ihn an sich zog, ihn an die wilde Küste hinter der Brandungslinie zu locken suchte.
Ärgerlich schob er den Gedanken beiseite. Er war schon fast so verrückt wie Quillan.
Der Priester redete noch immer von dem Sog, den er gespürt hatte. »Ich konnte mich einfach nicht dagegen wehren. Es bot mir das an, wonach ich mein ganzes Leben lang gesucht habe. Gott sei gepriesen, daß Kinverson mich rechtzeitig festgehalten hat.« Er schaute Lawler mit einer Mischung von Entsetzen und Erstaunen an. »Du hattest recht, Doktor, mit dem, was du gestern gesagt hast. Es wäre Selbstmord gewesen. Ich habe da vorhin nur geglaubt, ich würde GOTT nahen, irgendeiner Art von Gott. Aber es war vielleicht der Teufel, was weiß ich. Das da drüben ist die Hölle. Ich hab geglaubt, es ist das Paradies, aber es ist die Hölle.« Seine Stimme war fast zu einem Flüstern abgesunken. Dann sprach er wieder deutlicher zu Delagard: »Ich verlange, daß du uns von hier wegbringst. Hier sind unsere Seelen in Gefahr, und wenn du nicht an die menschliche Seele glaubst, dann bedenke wenigstens, daß unser Leben hier auf dem Spiel steht. Wenn wir noch länger hier verweilen…«
»Beruhige dich«, sagte Delagard. »:Wir werden nicht bleiben. Wir verschwinden von hier, so schnell wie möglich.«
Quillans Lippen bildeten ein erstauntes O.
Schleppend sprach Delagard weiter: »Auch ich hab meine eigene kleine Offenbarung gehabt, Father, und sie stimmt mit deiner überein. Diese ganze Fahrt war eine einzige gigantische, beschissene, gottverdammte Fehlplanung, tut mir leid. Wir haben hier nichts zu suchen, und ich will von hier ebenso eilig weg wie du.«
»Ich versteh nicht… ich dachte, daß du…«
»Denk nicht mehr so viel«, sagte Delagard. »Wenn einer zuviel denkt, kann das verdammt schlimm für ihn werden.«
»Hast du gesagt, wir drehen ab?« fragte Kinverson.
»Stimmt.« Delagard starrte herausfordernd zu dem Riesen hinauf. Sein Gesicht war vor Scham und Verdruß gerötet. Aber dabei wirkte er beinahe sogar irgendwie belustigt über das Ausmaß der Katastrophe, die über ihn hereingebrochen war. Allmählich wirkte er wieder wie sein früheres Selbst. Über sein Gesicht huschte der Artflug eines Lächelns. »Ja, wir ziehen ab.«
»Mir ist es recht«, sagte Kinverson. »Jederzeit, wann du willst.«
Lawlers Aufmerksamkeit wurde plötzlich durch etwas sehr Seltsames abgelenkt, und er schaute weg. Hastig fragte er dann: »Habt ihr das gehört? Grad eben? Da spricht jemand von drüben zu uns.«
»Was? Wo?«
»Seid mal ganz still und horcht. Es kommt von drüben, vom Land: Doctor-sir, Captain -sir, Father-sir…« Lawler imitierte höchst genau die helle, dünne weiche Stimme. »Hört ihr es nicht? Ich bin jetzt im Antlitz, Captain -sir, Doctor-sir, Father-sir. Als ob er direkt hier bei uns wäre.«
»Gharkid!« rief der Priester. »Aber wie…? Wo…?«
Nun kamen auch die anderen an Deck: Sundira, Neyana, Pilya Braun, und ein paar Meter dahinter Dag Tharp und Onyos Felk. Alle wirkten verblüfft über das, was sie gehört hatten. Zuletzt kam Lis Nikiaus merkwürdig taumelnd und stolpernd. Sie stieß mit dem Zeigefinger immer wieder zum Himmel hinauf, als wollte sie ein Loch hineinbohren.
Lawler wandte sich um und blickte in die Höhe. Und darin sah er, worauf Lis deutete. Die wirbelnden Farben da droben begannen zu erstarren und eine Gestalt anzunehmen — die Form des dunklen unergründlichen Gesichts von Natim Gharkid. Auf unerklärliche, bedrängend unausweichliche Weise schwebte da auf einmal das gigantische Abbild des rätselhaften Kerlchens über ihnen.
»Wo ist er?« brüllte Delagard mit heiserer verquollener Stimme. »Wie macht er das? Holt ihn runter! Gharkid! Gharkid!« Er fuchtelte wild mit den Armen. »Sucht ihn! Alle! Durchsucht das Schiff! Gharkid!«
»Er ist im Himmel«, sagte Neyana Golghoz benommen, als wäre damit die Sache restlos erklärt.
»Nein«, entgegnete Kinverson. »Er ist drüben auf dem Land. Da, seht doch, der Wassergleiter ist weg. Er muß damit rübergefahren sein, als wir hier mit Father Quillan beschäftigt waren.«
Und tatsächlich, die Befestigungen des Gleiters baumelten leer. Gharkid mußte ihn ganz allein gewassert und sich dann quer über die kleine Bucht zur Küste begeben haben. Und dort hatte er das ›Antlitz‹ betreten, war von ihm absorbiert und verwandelt worden. Lawler starrte bestürzt und entsetzt das riesige Angesicht im Himmel an. Gharkids Gesicht, ganz ohne Zweifel. Aber wie? Wie war das möglich?
Sundira trat neben ihn und schob ihm den Arm unter. Sie bebte vor Furcht. Lawler hätte sie gern getröstet, aber er fand keine Worte.
Delagard konnte als erster wieder sprechen. »Alle auf ihre Posten! Holt Anker auf! Ich will Segel sehen! Wir hauen hier ab, und zwar höllisch schnell!«
»Warte noch einen Augenblick«, sagte Quillan leise und wies mit dem Kopf zur Küste. »Gharkid kommt zu uns zurück.«
Es schien ewig zu dauern, bis der kleine Mann wieder zum Schiff zurückkehrte. Keiner wagte sich von der Stelle zu rühren. Sie standen alle steif und bedrückt nebeneinander an der Reling und schauten zu.
Gharkids Abbild im Himmel war in dem Moment verschwunden, als der reale Gharkid in Sicht kam. Doch die unverkennbare Stimmfärbung Gharkids schwang irgendwie noch immer als Teil der unbegreiflichen psychischen Emanation mit, die konstant vom Land herüberstrahlte. Die sichtbare Inkarnation, seine physische Gestalt, mochte ja zurückkehren, doch irgend etwas war dort drüben geblieben.
Er hatte den Wassergleiter zurückgelassen — Lawler erblickte das Gefährt jetzt am Strand zwischen den Pflanzen, und frische Vegetationstriebe begannen es bereits zu umschlingen — und kam durch die kleine Bucht herausgeschwommen, oder eher gewatet. Seine Bewegungen waren gelassen, er schien sich offenbar vor keiner Gefahr seitens irgendwelcher im Wasser hausender Geschöpfe zu fürchten. Natürlich nicht, dachte Lawler dann, er gehört ja jetzt zu ihnen.
Als er dann bereits näher am Schiff in tieferes Wasser kam, senkte Gharkid den Kopf und begann zu schwimmen. Seine Schläge waren langsam und gelassen, und er kam mühelos und glatt voran.