Kinverson ging zum Fangdeck und kam mit einer Harpune zurück. In seiner Wange zuckte es vor kaum unterdrückter Angespanntheit. Er schwang das scharfe Werkzeug hoch wie einen Speer.
»Wenn — das da versucht, an Bord zu kommen…«
»Nein!« sagte der Priester. »Das darfst du nicht! Er gehört ebenso zum Schiff wie du.«
»Wer sagt das? Was ist das denn da drunten? Wer sagt, das ist Gharkid? Ich bring ihn um, wenn er uns nahekommt.«
Doch wie es schien, hatte Gharkid gar nicht die Absicht, an Bord zu kommen. Er trieb gemächlich in einiger Entfernung längsseits und hielt sich durch leichte Handbewegungen an Ort und Stelle.
Und er schaute zu ihnen herauf.
Und lächelte dieses weiche, unergründliche Gharkid-Lächeln.
Und winkte einladend.
»Ich schieß ihn ab!« brüllte Kinverson. »Den Hund! Diesen dreckigen kleinen Hund!«
»Nein!« sagte Father Quillan erneut ruhig, als der Klotz den Zackenspeer hob. »Hab doch keine Furcht! Er tut uns nichts.« Der Priester hob die Hand und berührte Kinverson sacht an der Brust, und Kinverson schien unter dieser Berührung zu schmelzen. Benommen ließ er den zum Wurf erhobenen Arm sinken. Sundira glitt neben ihn und nahm ihm die Harpune ab. Er schien es kaum zu merken.
Lawler schaute zu dem Mann im Wasser hinab. Gharkid — oder war es das ›Antlitz‹, das durch das sprach, was Gharkid gewesen war? — rief ihnen zu, befahl sie auf die Insel. Und jetzt verspürte Lawler wahrhaftig die anziehende Kraft; sie war unbezweifelbar, und es handelte sich auch nicht um eine Sinnestäuschung, sondern war eine unüberhörbare, starke Aufforderung, die in geba lltem pulsierenden Rhythmus herandrang; es erinnerte ihn an die starken Sogströme, denen er zuweilen beim Schwimmen in der Sorve-Bucht begegnet war. Damals war es ihm ziemlich leichtgefallen, sich dem zu widersetzen. Jetzt aber fragte er sich, ob er hier stark genug sein werde, denn dieser Sog zerrte direkt an den Wurzeln seiner Seele.
Dann drang das heftige abgehackte Atmen Sundiras in seine Sinneswahrnehmungen. Sie stand an seiner Seite, ihr Gesicht war bleich, und die Augen flackerten vor Furcht. Aber ihre Zähne waren zusammengebissen, und sie sah aus, als sei sie fest entschlossen, dem unheimlichen Rufen nicht zu folgen.
Kommt her zu mir, sagte ›Gharkid‹ immer wieder. Kommt! Kommt zu mir…
Es war seine weiche leise Stimme. Aber durch ihn sprach das ›Antlitz‹. Lawler war sich jetzt sicher: Da war eine sprechende Insel, und sie versprach verlockend jedem alles mit einem einzigen Wort: Komm, du brauchst nur zu kommen.
»Ich komme!« schrie Lis Nikiaus plötzlich. »Wart auf mich! Warte! Ich komme!«
Sie stand etwas weiter hinten beim Topmast mit leerem Blick und tranceentrücktem Gesicht, und begann nun mit flachen schlurfenden Schritten auf die Reling zuzustreben. Delagard wirbelte herum und brüllte sie an, sie solle stehenbleiben. Lis ging weiter. Delagard fluchte und rannte zu ihr hin. Er erreichte sie in dem Moment, in dem sie an der Reling ankam, und griff nach ihrem Arm.
Mit kalter, scharfer Stimme, die Lawler fast nicht als die ihr erkannte, sagte Lis: »Nein, du Schwein! Nein! Rühr mich nicht an!« Sie versetzte Delagard einen Stoß, der ihn aufs Deck stürzen ließ. Er prallte schwer auf die Planken und lag dann da auf dem Rücken und glotzte Lis ungläubig an. Er schien zu keiner Bewegung fähig zu sein. Eine Sekunde später war Lis auf die Reling gestiegen und kopfüber ins Wasser gesprungen und mit einer lichtersprühenden Spritzfontäne eingetaucht.
Dann schwammen sie und Gharkid nebeneinander an Land.
In der heissen wirbelnden Luft über der Insel hingen jetzt tiefe, dunkle Wolken. Oben waren sie gelbbraun, weiter unten dunkler… Die Färbung von Lis. Sie hatte ihr Ziel erreicht.
»Es wird uns alle holen«, sagte Sundira keuchend. »Wir müssen weg von hier!«
»Ja, und zwar schnell«, stimmte Lawler ihr zu. Hastig schaute er sich um. Delagard lag immer noch platt auf dem Deck, wohl eher benommen als verletzt, aber anscheinend unwillig oder unfähig, sich zu erheben. Onyos Felk kauerte am Vordermast und brabbelte leise wirres Zeug vor sich hin. Der Priester lag auf den Knien, schlug unablässig das Kreuzzeichen und murmelte Gebete. Dag Tharp, gelbäugig vor Angst, hatte die Hände in den Bauch verkrallt und krümmte sich in trockenen Brechanfällen. Lawler fragte kopfschüttelnd: »Und wer soll die Navigation machen?«
»Kommt’s darauf noch an? Wir müssen nur fort von dem Ding da und weiterfahren. Weg! Solang wir genug Leute für die Segelmanöver haben…«
Sundira musterte das Deck. »Pilya! Neyana! Schnappt euch die Taue da! Val, kannst du mit dem Steuerruder umgehen? Himmel! Der Anker ist ja noch drunten… Gabe! Gabe, hol um Himmels willen den Anker ein!«
»Lis kommt grad zu uns zurück«, bemerkte Lawler.
»Kümmere dich nicht darum. Hilf lieber Gabe mit dem Anker!«
Doch es war schon zu spät. Lis hatte bereits die halbe Distanz mit kräftigen leichten Schwimmstößen hinter sich gebracht. Und Gharkid kam direkt hinter ihr her. Sie machte im Wasser halt und schaute zu ihnen herauf, und ihre Augen waren nicht mehr die ihren, sondern neue Augen, fremd und unmenschlich.
»Gott erbarme sich unser aller Seelen«, murmelte Father Quillan. »Jetzt zerren sie alle beide an uns!« In seinen Augen stand Entsetzen. Er bebte krampfartig am ganzen Leib. »Ich fürchte mich, Lawler. Hier ist, wonach ich mein Leben lang gestrebt habe, und jetzt, wo es — greifbar nahe ist, fürchte ich mich. Ich fürchte mich schrecklich!« Flehentlich streckte er Lawler die Hände entgegen. »Hilf mir! Bring mich unter Deck! Sonst werde ich schwach und geh da hinüber. Ich kann nicht mehr dagegen ankämpfen.«
Lawler ging auf ihn zu. »Laß ihn doch gehen!« rief Sundira heftig. »Uns bleibt keine Zeit. Und er nutzt uns sowieso nichts.«
»Hilf mir!« winselte der Priester. Er schob sich mit den gleichen schlurfenden gleitenden trancehaften Schritten wie Lis auf die Reling zu. »Mein GOTT ruft mich und ich schrecke davor zurück, zu IHM zu gehen!«
»Das ist nicht dein Gott, der dich da ruft«, sagte Sundira scharf. Inzwischen rannte sie herum und war überall zugleich, versuchte die anderen mit ihrer Energie sozusagen zur Aktivität zu galvanisieren, doch schien es nichts zu bewirken. Pilya starrte in die Takelung hinauf, als hätte sie noch nie zuvor so etwas wie ein Segel gesehen. Neyana war allein auf dem Vordeck und sang monoton leise vor sich hin. Kinverson hatte überhaupt nicht auf die Aufforderung reagiert, sich um den Anker zu kümmern, sondern stand stocksteif und mit weitgeöffneten leeren Augen mittschiffs, wie in einer für ihn ganz atypischen spirituellen Kontemplation gefangen.
Kommt zu uns, sagten Gharkid und Lis. Kommt doch, kommt zu uns! Kommt!
Lawler zitterte am ganzen Leib. Der Sog war inzwischen viel stärker geworden als zuvor, als Gharkid allein sie zu locken versucht hatte. Lawler hörte ein klatschendes Geräusch im Wasser. Wieder war jemand über Bord gesprungen. Felk? Tharp? Nein. Tharp kauerte noch immer da drüben wie eine kleine Stinkmorchel. Aber Felk war weg. Und dann sah Lawler, wie auch Neyana über die Bordwand stieg und ins Wasser sprang.
Einer nach dem anderen werden wir alle so verschwinden, dachte er. Einer nach dem anderen. Und aufgehen in der fremdartigen Entität da drüben.
Er kämpfte mit aller Kraft dagegen an. Er rief die Sturheit und Hartnäckigkeit seines Wesens auf den Plan, seine leidenschaftliche Liebe zur Abgeschirmtheit und Unberührtheit, die heftige, arrogant streitlustige Beharrlichkeit, mit der er seinen ganz persönlichen, ganz eigenen Weg gehen wollte, und formte sich daraus eine Waffe gegen das, was ihn da forderte. Er wickelte sich in seine lebenslange Einsamkeit und Isolation zurück und schlug sie um sich, als wäre es ein unsichtbar machender Mantel.