Und es schien zu funktionieren. Der Sog war stark — und er wurde immer stärker, doch er vermochte Lawler nicht über die Reling zu ziehen. Der Außenseiter bis zum Ende, dachte er, der ewige Einzelgänger, ich spiele nicht einmal bei der Vereinigung mit, die dieses mächtige gefräßige Ding da drüben überm Wasser uns anbietet.
»Bitte«, flehte Father Quillan fast winselnd. »Wo ist die Deckluke? Ich kann sie nicht finden!«
»Komm mit«, sagte Lawler. »Ich bring dich runter.«
Er sah Sundira verzweifelt am Ankerspill kurbeln, wo sie allein versuchte, den Anker zu lichten. Aber dafür war sie nicht kräftig genug; einzig Kinverson von ihnen allen vermochte das alleine. Lawler zögerte. Da war Quillans Hilfsbedürftigkeit, und dagegen stand die dringlichere Aufgabe, das Schiff freizubekommen.
Delagard war endlich wieder auf den Beinen und kam auf ihn zugetaumelt wie einer, der einen Schlaganfall erlitten hat. Lawler schob ihm den Priester in die Arme.
»Da! Halt ihn fest, sonst geht er uns über Bord.«
Dann lief er zu Sundira. Doch plötzlich stellte sich ihm Kinverson in den Weg und schleuderte ihn mit einem Stoß seiner Pranke gegen die Brust zurück.
»Der Anker…«, hustete Lawler. »Wir müssen den Anker einholen…«
»Nein. Laß das!«
Kinversons Augen waren sehr eigenartig und wie nach oben verdreht.
»Also du auch?« fragte Lawler.
Er hörte hinter sich ein Grunzen und dann wieder ein Aufklatschen. Er drehte sich um. Delagard stand allein an der Reling und schaute auf seine Hände, als fragte er sich, wozu sie taugten. Quillan war verschwunden. Lawler sah ihn drunten mit erhabener Unbeirrbarkeit durchs Wasser schwimmen. Er war im Endspurt auf seinem Weg zu ›Gott‹ — oder was immer dort drüben war. Endlich.
»Val!« Sundira mühte sich noch immer am Ankerspill ab.
»Hat keinen Zweck«, rief er zurück. »Sie gehen alle über Bord!«
Am Ufer konnte er Gestalten sehen, die stetig tiefer in die wogenden Vegetationsdschungel eindrangen. Neyana, Felk. Und nun auch Quillan, der an Land kroch und ihnen folgte. Gharkid und Lis waren bereits verschwunden.
Lawler zählte im Geist ab, wer noch an Bord verblieben war: Kinverson, Pilya, Tharp, Delagard, Sundira. Machte mit ihm selbst sechs Personen. Aber Tharp sprang in eben diesem Moment ins Wasser. Also fünf. Ganze fünf Menschen von allen, die aus Sorve aufgebrochen waren.
Kinverson sagte: »Dieses elendige beschissene Leben: Und wie hab ich jeden einzelnen scheißestinkenden Tag davon gehaßt! Und mir gewünscht, ich war nie geboren. Das hast du nicht gewußt? Aber was hast du überhaupt je gewußt? Was weiß überhaupt jemals einer vom anderen? Ihr alle habt gedacht, ich bin zu groß und stark, mir kann nichts was anhaben, mir tut nie was weh. Weil ich nie was gesagt habe, ist keiner auf die Idee gekommen. Aber ich hab gelitten… in jeder gottverfluchten Minute. Tag für Tag. Und keiner hat es gemerkt. Keiner.«
»Gabe!« rief Sundira.
»Und du, geh mir, verdammt noch mal, aus dem Weg, oder ich zerreiß dich in zwei Teile.«
Lawler sprang hinüber und schlang die Arme um ihn. Kinverson wischte ihn von sich, als wäre er ein Strohhalm, sprang mit einem geschmeidigen Satz auf den Handlauf der Reling und hechtete ins Meer.
Vier.
Aber wo war Pilya? Lawler blickte sich um und sah sie — nackt und schimmernd im Sonnenglast — droben in der Takelung immer höher in die Toppen steigen. Wollte sie etwa von dort oben…? Sie wollte und tat es.
Drei.
Sundira sagte: »Jetzt sind nur noch wir übrig.« Sie sah Lawler an und schaute dann zu Delagard, der wie ein Haufen Elend am Fuß des Hauptmasts hockte und das Gesicht in die Hände vergraben hatte. »Ich nehme an, uns will das da drüben nicht haben.«
»Nein«, widersprach Lawler. »Wir sind die einzigen, die stark genug sind, uns dagegen zu wehren.«
»Na dann, hurra für uns«, sagte Delagard düster, ohne aufzublicken.
»Können wir zu dritt das Schiff manövrieren?« fragte sie. »Was meinst du, Val?«
»Wir können es wenigstens versuchen, denke ich.«
»Red keinen Schwachsinn!« sagte Delagard. »Es ist unmöglich, ein solches Schiff mit drei Mann zu fahren.«
»Wir könnten doch die Segel in den Hauptwind setzen und einfach mit der Strömung fahren«, sagte Lawler. »Vielleicht kommen wir auf die Weise irgendwie früher oder später zu einer bewohnten Insel. Es ist auf jeden Fall besser, als hie rzubleiben. Was meinst du dazu, Nid?«
Delagard zuckte die Achseln.
Sundira schaute zur Insel hinüber.
»Siehst du noch einen von ihnen?« fragte Lawler.
»Keinen mehr. Aber ich hör was. Spür was. Ich glaub, Father Quillan kehrt zu uns zurück.«
Lawler spähte zur Küste hinüber. »Wo?« Der Priester war nirgends zu sehen. Und trotzdem, trotzdem — jetzt spürte auch Lawler eine quillanähnliche Nähe, ohne Zweifel. Es war, als befände sich der Priester dicht neben ihnen hier auf dem Schiffsdeck. Ein neuer Trick von da drüben, sagte sich Lawler.
»Nein«, sagte Quillan, »es ist kein Trick. Ich bin hier.«
»Das stimmt nicht. Du bist noch immer auf dem Land«, erwiderte Lawler mit heiserer Stimme.
»Ich bin auf dem Land und hier bei euch zur selben Zeit.«
Delagard stieß einen dumpfen ärgerlichen Laut aus. »Verdammt noch mal, wieso kann uns das Mistding nicht in Ruhe lassen?«
»Es liebt euch«, antwortete Quillan. »Es sehnt sich nach euch. Wir sehnen uns nach euch. Kommt und vereinigt euch mit uns.«
Lawler begriff, daß ihr Sieg nur vorläufig war. Der Sog bestand trotzdem weiter — allerdings sanfter, als erlegte sich jemand Zurückhaltung auf —, doch bereit, sie zu packen, sobald sie nicht mehr auf der Hut waren. Und das Quillan-Phantom war als Ablenkung gedacht — als Verführung und Ablenkung.
Lawler fragte: »Bist du der Priester Quillan, oder spricht das ›Antlitz‹ da drüben durch dich?«
»Beides. Ich bin jetzt Teil davon.«
»Aber trotzdem begreifst du dich noch als den Priester, den katholischen Father Quillan, als Individuum in der überindividuellen Einheit dieses — Dings da — dieser Feste über dem Wasser?«
»Ja. Ja. Ganz genau so ist es.«
»Und wie kann so was sein?«
»Komm her und sieh«, sagte Quillan. »Du bleibst du selbst. Und trotzdem wirst du zu etwas unendlich Größerem.«
»Unendlich?«
»Ja — unendlich.«
»Das ist wie ein Traum«, sagte Sundira. »Da redest du mit etwas, das du nicht sehen kannst, und es antwortet dir mit der Stimme von jemand, den du kennst.« Sie wirkte sehr gelassen. Wie Delagard machte sie nun den Eindruck, als sei sie inzwischen jenseits von aller Furcht, als wäre alle Besorgnis von ihr abgefallen. Entweder würde das ›Antlitz‹ sie kriegen oder nicht, doch das war fast schon gänzlich ihrer Kontrolle entzogen. »Father, kannst du auch mich hören?«
»Aber gewiß doch, Sundira.«
»Weißt du, was das ›Antlitz‹ ist? Ist es Gott? Kannst du uns das sagen?«
»Das ›Antlitz‹ ist Hydros. Und Hydros ist das ›Antlitz‹«, sprach die gelassene Stimme des Priesters. »Hydros ist ein gewaltiges Kollektiv- Bewußtsein, ein zusammengesetzter Organismus und eine singuläre Intelligenz, die den gesamten Planeten umfaßt. Die Insel, zu der wir vorgestoßen sind, ist etwas Lebendiges — sie ist das Gehirn des Planeten. Und sie ist mehr als ein Gehirn: Sie ist zugleich auch der zentrale Mutterschoß für alles Existierende. Die All- und Ur-Mutter, aus der alles, was auf Hydros lebt, hervorströmt.«