Er blickte Delagard scharf an. »Das sind doch nicht die ersten Taucher, mit denen ihr so was gemacht habt?«
Der Dicke wich seinem Blick aus.
»Nein.«
»Ja, hast du denn keinen Verstand? Daß du kein Gewissen hast, das weiß ich, aber wenigstens eine Spur Vernunft könntest du doch aufbringen. Was ist mit den anderen geschehen?«
»Sie starben.«
»Das habe ich vermutet. Aber was habt ihr mit den Leichen gemacht?«
»Sie zu Futter verarbeitet.«
»Wundervoll! Wie viele waren es?«
»Es ist schon eine Weile her. Vier oder fünf — ich weiß nicht mehr genau.«
»Also wahrscheinlich zehn. Haben die Gillies davon Wind bekommen?«
Delagards ›Ja‹ war wohl die leiseste akustisch mögliche Bestätigung, die jemand von sich geben konnte.
»Ja«, höhnte Lawler nachäffend. »Klar doch sind sie dir draufgekommen. Die Gillies merken es immer, wenn wir hier in der Fauna herumpfuschen. Und? Was haben sie gesagt, nachdem sie es gemerkt hatten?«
»Sie haben mich verwarnt.« Es klang ein wenig lauter, aber nicht viel, im heiseren unterdrückten Ton eines bei einem Streich ertappten Schuljungen.
Jetzt kommt’s, dachte Lawler. Endlich kommen wir zum Kern der Sache.
»Verwarnt, inwiefern?« fragte er.
»Daß ich bei meinen Operationen künftig keine Taucher mehr einsetzen soll.«
»Aber wie’s aussieht, hast du das trotzdem gemacht. Wieso, verdammt, hast du denn weitergemacht, nachdem sie dich bereits gewarnt und es dir verboten haben?«
»Wir haben die Methode abgewandelt. Wir dachten eben, es wird schon nichts schiefgehn.« Delagards Stimme gewann wieder ein wenig Festigkeit zurück. »Hör mal, Lawler, hast du überhaupt ’ne Ahnung, wie wertvoll diese Mineralknollen sein könnten? Durch sie könnte sich unsere ganze Existenz auf diesem verdammten Wasserloch von Planeten verändern! Woher hätte ich denn wissen sollen, daß die Taucher direkt in das verdammte Grundnetz schwimmen? Und woher soll ich wissen, daß sie da auch noch drinbleiben wollten, nachdem wir signalisiert hatten, daß wir den Schlepp einholen?«
»Sie wollten ganz bestimmt nicht da drinbleiben. Sondern sie müssen sich dort verfangen haben. Intelligente taucherfahrene Meerestiere bleiben nicht einfach so in einem Netz sitzen, das aus vierhundert Metern im Eiltempo raufgeholt wird.«
Delagard antwortete mit blitzenden Augen: »Also, sie sind aber dringeblieben. Warum, das weiß ich auch nicht.« Dann erlosch der bossige Blitzeblick, und er bedachte Lawler erneut mit der Miene eines, der um ein Wunder bittet, die Augäpfel flehentlich nach oben verzückt. Hoffte er etwa noch immer? Sogar jetzt noch? »Hast du wirklich nichts, gar nichts tun können, um sie zu retten, Lawler? Überhaupt gar nichts?«
»Na klar, hätte es da was gegeben. Alles mögliche hätte ich machen können. Aber anscheinend war ich wohl grad nicht in der rechten Stimmung dafür.«
»Tut mir leid. Das war blöd von mir.« Delagard sah fast zerknirscht drein. Heiser sagte er: »Ich weiß, du hast dein Bestes versucht. Hör mal, gibt es irgendwas, das ich dir in dein Vaargh schicken lassen kann, als Honorar? Vielleicht eine Kiste Beerentang-Brandy, oder ein paar gute Körbe, oder eine Wochenration Banger-Steaks…«
»Den Brandy«, sagte Lawler. »Das ist noch die beste Idee, dann kann ich mich wenigstens richtig besaufen und zu vergessen versuchen, was ich hier heut früh gesehen hab.« Er schloß die Augen. »Die Gillies haben Kenntnis davon, daß du drei komatöse Taucher die ganze Nacht lang hier versteckt hast.«
»Wirklich? Woher willst du das so sicher wissen?«
»Weil ich in ein paar von ihnen reingelaufen bin, vorhin, als ich an der Bucht herumgewandert bin, und sie haben mir fast den Kopf abgebissen. Sie schäumen vor Wut. Hast du denn nicht gesehen, wie sie mich vertrieben haben?« Delagards Gesicht war auf einmal aschgrau; er schüttelte den Kopf. »Also, sie haben mich verscheucht. Und ich hatte nichts weiter getan, als daß ich bestenfalls ihrem Kraftwerk etwas zu nahe gekommen bin. Nur, früher haben sie durch nichts zu verstehen gegeben, daß uns dort der Zutritt verboten ist. Also muß es wegen der Taucher gewesen sein.«
»Meinst du wirklich?«
»Was sonst?«
»Setz dich erst mal hin. Doc, wir müssen miteinander reden.«
»Nicht jetzt.«
»Also, hör doch erst mal zu!«
»Ich will aber nicht, klar? Ich kann mich hier nicht lä nger aufhalten. Ich hab was anderes zu tun. Wahrscheinlich warten im Vaargh schon die Patienten auf mich. Verdammt noch mal, ich hab noch nicht einmal gefrühstückt.«
»Doc, warte doch ’nen Moment. Bitte!«
Delagard griff nach ihm, doch Lawler schüttelte die Hand ab. Auf einmal erregte ihm die heiße dumpfige Luft in dem Schuppen und der süßliche Geruch der toten Leiber Brechreiz. Sein Kopf begann sich zu drehen. Auch Ärzte haben ihre Grenzen. Er machte einen Bogen um den gaffenden Delagard und wollte ins Freie . An der Tür schwankte er mit geschlossenen Augen vor und zurück, holte tief Luft und lauschte dem Grollen seines leeren Magens und dem Knarren der Landebrücke unter seinen Füßen, bis der plötzliche Schwindelanfall wieder von ihm wich.
Er spuckte aus. Ein grüner, trockener Klumpen. Er starrte den Auswurf böse an. Himmel, was für ein Tagesbeginn!
Inzwischen war es Tag geworden. Ganz und gar. Wegen der unmittelbaren Äquatornähe von Sorve stieg die Sonne am Morgen rasch über den Horizont und versank bei Einbruch der Nacht fast genauso plötzlich wieder. Und an diesem Morgen war der Himmel noch dazu ganz besonders prächtig. Helle rosa Bänder waren mit rotgelben und türkisfarbenen gemischt und über das Firmament ausgegossen. Der Himmel da droben sah fast so bunt aus wie Delagards Sarong, dachte Lawler. Kaum war er vor dem Schuppen und in der frischen Luft, hatte er sich rasch wieder gefangen, spürte nun aber, wie eine erneute Woge von Zorn in ihm aufschwoll, die üble Resonanzen in seinen Eingeweiden auslöste, und er senkte den Blick auf seine Füße und atmete erneut tief durch. Er mußte zusehen, daß er heimkam, das war es, was er jetzt brauchte. Sein Haus und ein Frühstück — und vielleicht ein oder zwei Tröpfchen von seiner Taubkraut-Tinktur. Und danach die tägliche Tretmühle.
Er machte sich hangaufwärts auf den Weg.
Weiter im Inselinnern waren bereits Leute auf und unterwegs.
Niemand schlief hier noch lang nach der Morgendämmerung. Die Nacht war zum Schlafen da, am Tag wurde gearbeitet. Auf dem Weg zu seinem Vaargh und zu dem morgendlichen Schub echt Leidender und chronischer Wehleidiger, der sich bei ihm einfinden würde, stieß Lawler auf einen signifikanten Prozentsatz der menschlichen Inselpopulation und grüßte jeden. Hier am Schmalende des Eilands, wo die Menschen hausten, hockte man sich sozusagen die ganze Zeit gegenseitig im Nacken.
Die meisten Leute, denen er zunickte, während er die sanfte Steigung des festen hellgelben Flechtpfades hinaufwanderte, waren Menschen, die er seit Jahrzehnten kannte. Fast die ganze Humanpopulation auf Sorve war auf Hydros geboren, und davon wieder war über die Hälfte direkt hier auf der Insel zur Welt gekommen. Genau wie auch Lawler selbst. Und die meisten hatten sich nicht ausdrücklich dafür entschieden, ihr gesamtes Leben auf diesem fremden Wasserball zu verbringen, taten es aber dennoch, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Die Lebenslotterie hatte ihnen schlicht bei ihrer Geburt das Ticket für Hydros ausgespielt, und sobald man erst mal auf Hydros war, konnte man nie wieder von hier fort, denn es gab keine Raumflughäfen und man konnte den Planeten nur auf einem Weg verlassen: durch den Tod. Die Geburt hier bedeutete die Verurteilung zu ›Lebenslänglich‹. Dies war seltsam in einer Galaxie voller bewohnbarer und bewohnter Welten — daß einem keine Chance gegeben wurde, selbst zu wählen, wo man gern leben wollte… Aber dann gab es da noch die anderen, die von draußen in Landekapseln hereingeplatzt kamen, und die hatten die Wahl gehabt und hätten überallhin gehen können im Universum und hatten sich trotzdem für diesen Planeten entschieden, obwohl sie wußten, daß es für sie kein Zurück gab. Das war sogar noch seltsamer.