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Und da sind wir jetzt. Da liegen wir. Requiescant in pace! Friede ihrem Staub!

Lawler blinzelte in die Nacht hinauf. Er stellte sich vor, er schaue zu der Stelle im Kosmos, an der sich die Mutterwelt einst befunden hatte. Aber er wußte ja, daß es für die im Universum verstreuten Nachkommen der überlebenden Erdenmenschen keine Hoffnung gab, jemals die verlorene Heimat der Vorväter wieder in Besitz zu nehmen.

Nein, sie mußten weiterziehen, mußten in diesem gewaltigen Universum eine neue Heimstatt finden, in das sie als Flüchtlinge und Exilanten geworfen worden waren. Sie mußten sich ändern, sich transformieren. Die Metamorphose wagen. Die Transfiguration!

Abrupt richtete er sich auf, als hätte ihn ein Blitzstrahl gestreift. Auf einmal war ihm alles so erstaunlich klar. Die Menschen, die er gekannt hatte und die ihr alltägliches kleines Leben gelebt hatten, als ob es nie so etwas wie die ALTE ERDE gegeben hätte, hatten recht gehabt damit, und er, der sich in hoffnungslose Träumereien verstrickt hatte, in Dinge, die einmal vor langer Zeit und in weiter Ferne gewesen waren, er hatte unrecht gehabt. Es würde nie mehr eine ERDE geben, für keinen Erdabkömmling. Und für die auf Hydros lebenden Menschen gab es schlicht und klar nur Hydros. Jetzt und für immer und ewig. Es war einfach Wahnsinn, wollte man versuchen, sich abzusondern, sich für sich zu halten, sich verzweifelt an eine Erblast und ERD-Identität zu klammern, während man inmitten der alteingesessenen heimischen Lebensformen der Gastwelt zu leben versuchte. In welcher Welt man sich auch befinden mochte, dachte Lawler, man hat die Pflicht und Verpflichtung, sich zu einem vollfunktionierenden, integrierten Teil dieser Lebenswelt zu machen. Wenn du das nicht tust, wirst du immer der Außenseiter bleiben, der Fremdling, der Befremden auslöst und isoliert bleibt.

Ja. Das war es. Und hier bin ich jetzt, und ich bin noch mehr allein, als ich es jemals vorher war. Und Hydros hatte ihm die Eingliederung angeboten, hatte ihn aufnehmen wollen, aber er hatte das zurückgewiesen, und zwar nachdrücklich und unwiderruflich, und nun war alles zu spät.

Er schloß die Augen und sah noch einmal die ALTE ERDE vor sich in den Himmeln schweben: Hell und wunderbar. Die Vision seines verlorenen Paradieses, die er so viele Jahre mit sich herumgeschleppt hatte, loderte noch einmal — und leibhaftiger als je zuvor in seinem Gehirn auf. Der blaue Planet ERDE — so bezaubernd und so fremd — und die goldnen und grünen Landmassen, die im Lichte einer Sonne leuchteten, die er niemals gesehen hatte. Aber während er hinsah, begannen die weiten blauen Meere zu kochen. Dampf brodelte von ihnen auf. Das feste Land wurde von Flammen zerfressen. Die golden- grünen Weiten wurden braun und dann schwarz, und in ihnen taten sich tiefe scharfe Brüche auf, schwärzer als die Nacht.

Und nach dem Feuer — Eis, Tod, Finsternis. Ein Regen von kleinen toten Dingen rieselte durch den Weltraum. Eine Münze, das Fragment einer kleinen Statue, ein Tonscherben, eine Karte, eine verrostete Waffe, ein Steinsplitter. Und das torkelte und stürzte ziellos und wirr durch die weiten stillen Wüsten der Galaxie. Lawler verfolgte ihre Fugbahnen mit dem Blick.

Und alles dahin, dachte er. Gib’s auf! Laß es los! Fang ein neues Leben an!

Die Plötzlichkeit, mit der diese Idee ihm kam, überraschte ihn.

Wie? Was war das? Was hast du da grad gesagt? fragte er sich selber.

Aufgeben? Sich aufgeben? Preisgeben und mitmachen? War es das? Lawler begann zu zittern, und ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus. Er setzte sich auf und schaute hinaus auf die See, zurück zu der fernen Insel und dem ›Antlitz‹.

Und nun hatte er den Eindruck, als spüre er diese Kraft von drüben trotz allem, als könne sie ihn trotz der Entfernung erreichen, in sein Denken eindringen, ihre Tentakel um seine Seele schlingen und ihn mitreißen, ihn an sich ziehen.

Er wehrte sich dagegen. Wild und heftig und voller Wut kämpfte er und biß gegen dieses Fremde an, gegen diese Potenz, die sich seiner bemächtigen wollte. Stumm kämpfte er einen endlosen Augenblick lang dagegen an und versuchte, die in ihn vordringenden Energien wieder aus sich herauszufiltern. In seinem Geist tauchte das Bild Gospo Struvins auf, wie der damals, ganz zu Beginn der Reise, vergeblich gegen dieses dumpfigfeuchte gelbliche Faserngewächs angekämpft hatte, das aus der See heraufgestiegen war und ihn zu umstricken und einzuwickeln versuchte. Und wie Struvin in der Luft gezappelt hatte, wie er den Fuß geschleudert hatte in dem vergeblichen Versuch, sich von diesem klebrigen hartnäckigen Zeug zu befreien, das ihn umwickelte. Und so war es auch jetzt. Lawler wußte, daß er jetzt genauso um sein Leben kämpfte wie damals Gospo. Und Gospo hatte verloren.

Geh — weg — von — mir!

Er raffte alle seine inneren Kräfte zu einem großen reinigenden Befreiungsschlag zusammen und stieß zu.

Und stieß gegen — nichts. Da war nichts. Keine Netze oder Fesseln banden ihn. Keine unerklärliche Macht packte ihn in irgendeiner Würgeschlinge. Und er verstand es, begriff es über jeden Zweifel erhaben. Er kämpfte gegen SCHATTEN an, rang mit sich selbst, gegen sich selbst und gegen niemanden und nichts sonst.

Also — willst du jetzt doch überlaufen? fragte er sich dumpf. Trotz allem, jetzt willst auch du gehen? Sogar du? Und willst du es wirklich? Aber was willst du eigentlich im Leben wirklich?

Und wieder sah er die blaue ERDE, und in seiner Vorstellung leuchtete und schimmerte sie wie früher. Und dann begann sie wieder zu kochen und zu brodeln und brandgeschwärzt zu werden. Und wieder sah er das Eis, den Tod, die Finsternis und die winzigen Fragmente durchs Universum stürzen.

Und dann zwang sich ihm die Antwort auf: Ich will nicht allein sein. Will nie mehr allein sein. O mein Gott, hilf mir! Ich will nicht der letzte Erdenmensch sein, wenn es die Erde nicht mehr gibt!

Da machte Sundira, die warm an ihn geschmiegt lag, eine Bewegung. »Val? Woran denkst du denn?«

»Daß ich dich liebe«, sagte er.

»Wirklich? Auch so, wie ich jetzt bin?«

Er atmete tief durch. Und atmete die Luft von Hydros so heftig und gründlich ein wie nie zuvor in seinem Leben.

»Ja«, sagte er dann.

* * *

Da, wo einst in seinem Bewußtsein das Bild der ERDE gewesen war, schwebte nun nur noch eine makellose schimmernde Wasserkugel. Die zerspellten winzigen Objekte, die von der sterbenden Welt fortgefallen waren, schwebten einige Augenblicke über der Oberfläche der gewaltigen Wassersee. Dann stürzten sie ab und verschwanden, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Lawler spürte eine gewaltige Erleichterung, einen plötzlichen Einbruch von mildem Tauwetter. Etwas in ihm zerbarst und brach auf wie das Treibeis zum Ende des Winters. Und strömte in Schollen fort und fort und weg von ihm.

* * *

Lawler richtete sich auf und wandte sich Sundira zu, um ihr zu sagen, was ihm soeben geschehen war. Aber das war nicht nötig. Lächelnd schaute sie ihn an. Sie wußte. Und dann spürte er, wie das Schiff unter ihnen einen weiten Bogen zog, wendete und durch die leuchtende See wieder auf die Insel, das ›Antlitz‹, das Land über den Wassern zustrebte.