»Ach, eigentlich kaum«, antwortete Lawler. »Thibeire damals war ziemlich genau wie Sorve, fand ich. Der gleiche allgemeine Grundriß, der gleiche allgemeine emotionale Eindruck. Nur gab es dort keinen, den ich gekannt hätte. Und wenn schon ein Ort wie der andere ist, warum soll man dann nicht an dem vertrauten Ort bleiben, unter den Leuten, mit denen man schon immer zusammengelebt hat?« Er kniff die Augen zusammen. »Nein, Gedanken mach ich mir über die anderen Welten. Die mit trocknem Land. Die echten richtig festen, soliden Planeten. Ich frage mich, wie das sein muß, wenn man Tage und Tage hindurch einfach so gehen kann und nie offenes Wasser zu sehen bekommt, auf einem festen stabilen Boden gehen, immer, nicht bloß auf einer Insel, sondern auf einem ganzen Kontinent, wo man nicht überall von dem Platz, an dem du lebst, das Ende sieht, sondern eine enorme Landmasse mit Städten drauf und Bergen und Flüssen. Das sind leere Begriffshülsen für mich. Städte. Berge. Ich wüßte so gern, wie Bäume aussehen, was Vögel sind und Pflanzen, die Blüten tragen. Begreifst du? Ich frage mich, wie die ERDE war. Manchmal träume ich, es gibt sie noch, und ich bin wirklich dort, auf ihr, atme ihre Luft und spüre sie unter meinen Sohlen. Sie verfängt sich unter meinen Fingernägeln… Auf Hydros gibt es nirgendwo eine Bodenkrume, ist dir das bewußt? Da ist nur der Sand am Grund der See.«
Lawler blickte hastig zu den Händen des Geistlichen, als könne der noch die schwarze Erde von Sunrise unter den Nägeln haben. Quillans Augen folgten seinem Blick, und er lächelte schweigend.
Dann sagte Lawler: »Ich hab letzte Woche im Gemeindehaus zufällig mitgehört, wie du mit Delagard gesprochen hast: Über den Planeten, auf dem du gelebt hast, ehe du hierher kamst, und ich kann mich noch genau an jedes Wort erinnern, das du gesagt hast. Daß die Erde dort endlos weit erscheint, zuerst Weideland, dann Wald und dann Berge, und hinter den Bergen, auf der anderen Seite, eine Wüste. Und ich saß da und versuchte die ganze Zeit, mir vorzustellen, wie all dies wirklich aussieht. Aber das werde ich natürlich nie wissen. Von hier können wir eben nicht weg und zu anderen Welten, nicht wahr? Für uns brauchte es sie also eigentlich gar nicht zu geben. Und da jeder Fleck auf Hydros genauso ist wie jeder andere, neige ich nicht sehr zu wilden Streifzügen.«
»Natürlich«, sagte Quillan bedachtsam. Und nach einer Weile setzte er hinzu: »Aber das ist doch wohl nicht typisch, oder?«
»Typisch — für wen?«
»Die auf Hydros lebenden Menschen. Daß sie nie jemals irgendwohin reisen, meine ich.«
»Einige von uns sind Wanderer. Alle fünf, sechs Jahre ziehen sie auf eine andere Insel. Andere sind nicht so. Die meisten nicht, würde ich sagen. Ich jedenfalls bin nicht so.«
Quillan überdachte das.
»Natürlich«, sagte er erneut, als verarbeitete er ein kniffliges Faktum. Für den Augenblick sah es so aus, als wären ihm die Fragen ausgegangen. Anscheinend stand er kurz vor der Geburt einer schwerwiegenden Schlußfolgerung.
Lawler betrachtete ihn ohne großes Interesse, wartete aber höflich ab, was der Mann ihm sonst noch zu sagen haben mochte.
Doch es verstrich eine geraume Zeit, und Quillan sagte noch immer nichts. Vielleicht hatte er ja tatsächlich auch nichts weiter zu sagen.
»Na ja, dann«, sagte Lawler endlic h, »ich glaub, es ist Zeit, daß ich meinen Laden aufmache.«
Er setzte sich in Richtung auf die Vaarghs den Pfad hinauf in Bewegung.
»Warte doch«, bat Quillan.
Lawler wandte sich um und schaute ihn an. »Ja?«
»Bist du in Ordnung, Doktor?«
»Warum? Hast du den Eindruck, ich sehe krank aus?«
»Als wärst du irgendwie wegen etwas durcheinander«, sagte Quillan. »Das ist bei dir nicht oft der Fall. Als ich dir zum erstenmal begegnet bin, bekam ich den Eindruck, du bist ein Mann, der geradlinig sein Leben lebt, Tag um Tag und Stunde um Stunde, und der die Dinge nimmt, wie sie eben kommen. Aber heute morgen siehst du irgendwie anders aus. Dieser Ausbruch gerade, über die Anderwelten… also, ich weiß nicht. Das paßt irgendwie nicht zu dir. Aber selbstverständlich darf ich nicht behaupten, dich wirklich zu kennen.«
Lawler starrte den Geistlichen argwöhnisch unter gesenkten Lidern an. Er hatte keine Lust, ihm von den drei toten Tauchern in dem Schuppen auf Jollys Pier zu erzählen.
»Ich hab heute nacht über einige Probleme nachgedacht. Hab nicht genug Schlaf gekriegt. Aber ich hätte nicht geglaubt, daß man mir das so deutlich ansieht.«
»Oh, ich hab einige Erfahrung darin«, sagte Quillan und lächelte. Seine bleichblauen und meist noch gleichgültig und sogar verschleiert wirkenden Augen waren auf einmal irgendwie ungewöhnlich durchdringend geworden. »Dazu gehört nicht grad viel höhere Erkenntnis. Hör zu, Lawler, wenn du irgendwann über irgendwas, was immer es auch ist, mit mir sprechen möchtest… Was immer, wann immer dir was die Brust bedrückt…«
Lawler grinste und wies auf seine Brust, die nackend war. »Wie du deutlich selber sehen kannst, ist da nichts, oder?«
»Du weißt sehr genau, was ich meine«, erwiderte Quillan.
Einen flüchtigen Moment lang schien es, als finde zwischen ihnen eine Art intensiver Kommunikation statt, als fließe knisternd eine Stromspannung, die eine Intimität erstrebte, die Lawler weder wollte noch als angenehm empfand. Dann lächelte der Priester wieder freundlich-milde — zu freundlich, zu milde —, es war ein betont ausdrucksloses, unbestimmtes Lächeln — fast eine Grimasse der Güte —, das offensichtlich darauf abzielte, den Abstand zwischen ihnen wiederherzustellen. Der Priester hob die Hand. Die Geste konnte eine Segnung bedeuten, oder auch die Erlaubnis, sich zu entfernen. Dann neigte er den Kopf, machte kehrt und ging davon.
3
Als er seinem Vaargh näher kam, sah Lawler dort eine Frau mit langem, glattem dunklen Haar stehen, die dort auf ihn wartete. Eine Patientin vermutlich. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, und er erkannte sie nicht. Mindestens vier Frauen auf Sorve hatten solches Haar.
In dem Teil, in dem Lawler wohnte, gab es dreißig Vaarghs, drunten, an der Inselspitze noch etwa sechzig weitere, die nicht alle bewohnt waren. Es waren graue unregelmäßige und asymmetrische, doch ungefähr pyramidenartige Konstrukte; im Innern hohl, zweimal so hoch wie ein großer Mann, oben zu einer abgestumpften Spitze auslaufend. In Apexnähe waren sie von fensterähnlichen Öffnungen durchbrochen, die nach außen vorgestülpt waren, so daß der Regen nur bei allerheftigsten Stürmen, und auch dann nicht leicht, ins Innere gelangen konnte. Sie waren aus einem dicken, groben Zellulose-Material — einem Meeresprodukt, was sonst hätte es auch sein sollen? — offenbar vor sehr langer Zeit gebaut worden. Das Material war bemerkenswert fest und dauerhaft. Wenn man mit einem Stecken gegen ein Vaargh hämmerte, klang das wie eine metallene Glocke. Die ersten Humansiedler hatten die Vaarghs bei ihrer Ankunft bereits vorgefunden und sie als vorläufige ›Unterkünfte‹ in Benutzung genommen; aber das lag über hundert Jahre zurück, und die Insulaner hausten noch immer darin. Kein Mensch hatte eine Ahnung, wieso die Bauten hier standen. Vaargh-Ansammlungen fand man auf nahezu allen Inseln: vielleicht die verlassenen Nester einer ausgestorbenen Spezies, die einst zusammen mit den Gillies die Inseln bewohnten. Aber diese lebten in völlig andersartigen Behausungen: in flüchtig errichteten Unterschlüpfen aus Seetang, die alle paar Wochen beseitigt und neu errichtet wurden, während diese Vaarghs so ziemlich das Stabilste und Unzerstörbarste waren, das es auf dieser Wasserwelt gab. »Was sind das für Dinger?« hatten die Erstsiedler gefragt, und die Gillies hatten einfach gesagt: »Es sind vaarghs.« Was das aber bedeutete, blieb der Phantasie jedes einzelnen Menschen überlassen. Schließlich war ja die Kommunikation mit den Kiemlingen bis heute immer noch eine reine Glückssache.