»Wann haben diese Hustenattacken begonnen?« fragte er.
»Vor acht, nein, vor zehn Tagen. Etwa in der letzten Dreimondnacht, würde ich sagen.«
»Hattest du jemals zuvor ähnliche Beschwerden?«
»Nein. Nie.«
»Fieber? Brustschmerzen? Schüttelfrost?«
»Nein.«
»Hast du beim Husten Sputumauswurf? Blut?«
»Sputum? Meinst du, flüssigen Schleim? Nein, da war nie so was…«
Wieder überfiel sie der Krampfhusten, diesmal noch heftiger. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, das Gesicht rötete sich, der ganze Körper schien zu zucken. Hinterher hockte sie, den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern nach vorn geneigt, da und sah erschöpft und elend aus.
Lawler wartete, bis sie wieder bei Atem war.
Endlich sagte sie: »Wir sind gar nicht durch die Breiten gekommen, in denen die Killer-Fungi wachsen. Das sage ich mir immer wieder.«
»Das bedeutet aber nichts, wie du weißt. Ihre Sporen können im Wind Tausende von Kilometern weit getragen werden.«
»Innigsten Dank.«
»Du vermutest doch nicht ernsthaft, daß du infiziert bist?«
Sie blickte ihn fast zornig von unten her an. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht stecke ich von der Brust bis zu den Zehen voller roter Drähte, und wie sollte ich das erkennen können? Ich merke nur, daß ich unentwegt husten muß. Du bist es, der mir sagen soll, warum.«
»Vielleicht kann ich das«, erwiderte Lawler. »Vielleicht auch nicht. Wir wollen uns das erst mal anschaun. Zieh die Bluse aus.«
Er holte sein Stethoskop aus einer Lade.
Das Abhorchgerät war ein lächerlich primitives Instrument: nichts weiter als ein zwanzig Zentimeter langes Seebambusrohr, an dem an zwei biegsamen Schläuchen zwei Ohrmuscheln aus Plastik befestigt waren. Lawler hatte praktisch keinerlei modernes medizinisches Hilfsgerät zur Verfügung, eigentlich gar keines, das Ärzte im einundzwanzigsten und sogar im zwanzigsten Jahrhundert für zeitgemäß erachtet haben würden. Er mußte mit primitiven, geradezu mittelalterlichen Instrumenten zurechtkommen. Eine Röntgenuntersuchung hätte ihm sekundenschnell verraten, ob die Frau an Pilzbefall litt. Doch woher sollte er einen Röntgenschirm bekommen? Hydros hatte fast keinen Kontakt zu dem weiten Universum jenseits des Firmaments, und es gab weder Ex- noch Importhandel. Sie mußten schon glücklich sein, daß sie überhaupt so etwas wie medizinisches Hilfsgerät hatten. Und ein paar Ärzte, selbst so halbgebackene, wie er einer war. Die Humankolonie litt an ererbter Armut. Sie hatte so wenig Menschenmaterial mit einer so beschränkten Reserve an beruflichen Fähigkeiten.
Mit entblößtem Oberkörper stand die Frau bei der Auskultationsbank und sah zu, wie er sich die Stethoskophalterung um den Hals legte. Sie war sehr schlank, ja beinahe schon zu mager; die Arme lang, muskulös in der Art, wie die Arme einer mageren Frau muskulös sind, mit harten, kleinen flachen Muskelpaketen; die Brüste klein, hochgelagert und weit auseinanderstehend. Die Physiognomie in der Mitte des breiten, starkknochigen Gesichtes zusammengedrängt: kleiner Mund mit dünnen Lippen, schmale Nase, kühle graue Augen. Lawler fragte sich, wie er auf den Gedanken hatte kommen können, sie sei attraktiv. An ihr war überhaupt nichts im herkömmlichen Sinn als hübsch zu bezeichnen. Es liegt an ihrer Haltung, entschied er: der Kopf auf dem langen Hals etwas vorgereckt, das kräftige Kinn vorgeschoben, die Augen rasch, wach, in ständiger Bewegung. Sie wirkte kräftig, ja beinahe aggressiv. Zu seiner Verblüffung merkte er, daß sie ihn sexuell erregte, aber nicht, weil sie halb nackt vor ihm stand — Nacktheit, teilweise oder völlige, war auf der Insel Sorve weiter nichts Außergewöhnliches —, sondern wegen der starken Vitalität, die sie ausstrahlte.
Es war schon lange her, daß er etwas mit irgendeiner Frau zu schaffen gehabt hatte. In der jetzigen Zeit war es die bei weitem vorzuziehende, leichtere Losung, zölibatär zu leben, frei von Plage und Plunder, sobald du erst einmal die anfänglichen Gefühle der Vereinsamung und Ödnis überwunden hattest, wenn es möglich war, und ihm war das schließlich gelungen. Außerdem war er in seinen Bindungen nie besonders vom Glück begünstigt gewesen. Seine einzige Ehe, als er gerade dreiundzwanzig war, hatte weniger als ein Jahr gehalten. Alle späteren Beziehungen waren beiläufig, zufällig, fragmentarisch geblieben. Kurz: nicht die Mühe wert.
Das kurze Aufflammen endokriner Erregung erlosch rasch. Einen Moment später war er wieder ganz Arzt: Dr. Lawler bei einer Untersuchung.
»Jetzt bitte den Mund weit, ganz weit öffnen.«
»Da gibt es nicht sehr viel zu öffnen.«
»Na, mach es eben, so gut es geht.«
Sie sperrte den Mund auf. Er hatte einen kle inen Tubus mit einem Licht an der Spitze, ein von seinem Vater ererbtes Utensil; die Minibatterie mußte alle paar Tage neu aufgeladen werden. Er schob es der Frau in den Rachen und spähte hindurch.
»Also, stecke ich voller roter Drähte?« fragte sie, nachdem er die Sonde zurückgezogen hatte.
»Sieht nicht danach aus. Ich kann weiter nichts erkennen als eine leichte Rötung im Epiglottisbereich, weiter gar nicht ungewöhnlich.«
»Was ist das, die Epiglottis?«
»Der Lappen, der deine Glottis schützt. Mach dir da mal keine Gedanken.«
Er drückte ihr das Stethoskop ans Brustbein und horchte.
»Kannst du die Drähte da drin wachsen hören?«
»Schscht!«
Langsam schob Lawler das Stethoskop über den flachen harten Bereich zwischen den Brüsten, um die Herztöne abzuhören, dann tastete er weiter über den Brustkorb entlang.
»Ich versuche jetzt, hörbare Anzeichen für eine Entzündung im Perikardium zu entdecken«, sagte er zu seiner Patientin. »Das ist der Beutel um dein Herz. Und ich horche auch auf die Geräusche, die durch die Luft in den Röhrchen und Kavernen deiner Lungen entstehen. Atme jetzt mal tief ein und halt die Luft an. Versuche, nicht zu husten.«
Aber sofort und keineswegs überraschend begann sie zu krächzen. Lawler drückte das Stethoskop weiter gegen ihren Körper, obwohl das Gehuste nicht aufhören wollte. Jede Information war nützliche Information. Schließlich legte sich der Hustenanfall, und die Patientin war erneut hochrot im Gesicht und wirkte erschöpft.
»Tut mir leid«, keuchte sie. »Als du gesagt hast, ich soll nicht husten, war das wie eine Art Signal an meinen Kopf, und ich mußte einfach…«
Ein erneuter Husten kam über sie.
»Nur ruhig«, sagte er, »ganz ruhig.«
Diesmal dauerte der Anfall nicht so lange. Er horchte sie dabei ab, nickte, lauschte weiter. Alle s hörte sich normal an.
Aber er hatte noch nie einen Fall von Killer-Fungus zu behandeln gehabt. Er wußte nichts weiter über die Erkrankung, als was er vor langer Zeit von seinem Vater darüber gehört oder von anderen Ärzten auf anderen Inseln gehört hatte. Er überlegte, ob sein Stethoskop ihm wirklich verraten konnte, ob sich da etwas in den Lungen festgesetzt hatte oder nicht, und was es war.
»Dreh dich um«, befahl er.
Er horchte die Geräusche vom Rücken her ab. Er ließ die Patientin die Arme heben und tastete mit den Fingern ihre Flanken nach fremdartigen Wucherungen ab. Sie wand sich unter der Berührung, als würde er sie kitzeln. Er nahm eine Blutprobe aus der Armvene und schickte sie hinter einen Wandschirm in der Ecke, damit sie ihm dort eine Urinprobe produziere. Er besaß so etwas wie ein Mikroskop, das Sweyner, der Mechaniker, ihm zurechtgebastelt hatte. Die Auflösung war kaum besser als bei einem Spielzeugmikro, aber falls sich im Blut irgendwelche lebenden Fremdorganismen eingenistet hatten, würde er sie vielleicht trotzdem ausmachen können.
Ach, verdammt, er wußte so schrecklich wenig.
Sein Patientenkontingent war tagtäglich eine Herausforderung seines ärztlichen Könnens. Meistens mußte er sich so durchmogeln. Sein medizinisches Wissen bestand eigentlich nur aus einer recht dünnen Mixtur von praktischen Prozeduren, die er seinem Vater abgeguckt hatte, der ein hervorragender Arzt gewesen war, von verzweifelter Herumraterei und mühsam erworbenen eigenen Kenntnissen, die er sich nach und nach auf Kosten seiner Patienten erwerben konnte. Lawler hatte sein Medizinstudium erst zur Hälfte hinter sich gebracht, als sein Vater starb, worauf er selber, noch keine zwanzig Jahre alt, sich plötzlich in die Position des ›Doktors‹ auf der Insel Sorve katapultiert sah. Auf dem ganzen Planeten Hydros gab es keine echte medizinische Ausbildung oder irgendwas, das man auch nur entfernt als modernes medizinisches Hilfsmittel, Apparat oder Arznei hätte bezeichnen können, außer den Dingen, die Lawler selber sich aus den maritimen Lebensformen, seiner Phantasie und Gebeten zusammenmixen konnte. Zu Lebzeiten seines bedeutenden, leider früh dahingeschiedenen Vaters hatte irgendeine freundliche Wohlfahrts-Organisation auf Sunrise ab und zu einmal Päckchen mit medizinischer Ausrüstung und Medikamenten abgeworfen, aber eben nur sehr selten und sporadisch, und sie mußten dann auch noch zwischen den zahlreichen Inseln verteilt werden. Außerdem hatten diese vom Himmel fallenden Wohltätigkeiten schon seit langem nicht mehr stattgefunden. Die besiedelte Galaxie war recht ausgedehnt, und nirgendwo machte man sich noch viel Gedanken wegen der paar Leute, die auf Hydros lebten. Lawler tat, was er konnte, aber seine besten Bemühungen waren eben oftmals nicht gut genug. Wenn sich ihm die Chance bot, konferierte er mit den Ärzten von anderen Inseln, in der Hoffnung, von ihnen etwas zu lernen. Ihr medizinisches Können war zwar ebenso trübe wie das seine, doch er hatte entdeckt, daß es zuweilen durch den Austausch gegenseitigen Unwissens möglich wurde, in den Leuten ein Fünkchen der Erkenntnis zu zünden. Manchmal.