»Wie hast du die Droge entdeckt?« fragte sie.
»Die Kiemlinge benutzen das Taubkraut als Relaxans bei der Speisefischjagd in der Bucht.«
»Du meinst, die Sassen?«
Die pilierte Pedanterie, mit der sie ihn korrigierte, überraschte Lawler. Als ›Eingesessene‹ und daher ›Sassen‹ bezeichneten sich die dominanten Lebensformen auf Hydros. Aber jeder andere, der länger als einige Monate auf Hydros verweilt hatte, nannte sie ›Gillies‹, ›Kiemlinge‹; jedenfalls auf Sorve. Er dachte, vielleicht sind die Bräuche auf ihrer Heimatinsel anders, da draußen im Azurro. Oder aber es war jetzt die Mode bei jüngeren Leuten. Das wechselte. Er erinnerte sich selbst, daß er zehn Jahre älter war als sie. Höchstwahrscheinlich aber verwendete sie den förmlichen Terminus aus Achtung, da sie sich in der Rolle einer Erforscherin der Gillie -Kultur sah. Ach, zum Teufel, was immer sie bevorzugte, er wollte ihr da gern gefällig sein.
»Ja, die Sassen«, sagte er. »Sie reißen ein paar Algenstränge ab, umwickeln damit einen Köder und werfen es den Speisefischen zu, und wenn die das dann schlucken, werden sie schlaff und treiben wehrlos an die Wasseroberfläche. Dann kommen die Sassen heran und sammeln sie ein, ohne sich um die messerscharfen Tentakelspitzen kümmern zu müssen. Ein alter Seebär namens Jolly hat mir das erzählt, als ich ein Junge war. Später hab ich mich wieder dran erinnert und bin in den Hafen rausgefahren und hab ihnen dabei zugeschaut. Dann habe ich diese Algen gesammelt und mit ihnen experimentiert. Ich dachte, ich könnte sie vielleicht als Anästhetikum verwenden.«
»Und? Ging das?«
»Bei Speisefischen, ja. Aber ich führe kaum je Operationen an denen aus. Als ich es an Menschen einsetzte, fand ich heraus, daß die Dosierung, die für eine sichere Betäubung nötig war, zugleich auch schon tödlich wirkte.« Lawler lächelte bitter. »Meine Lehrlingszeit als Chirurg: Versuch und Irrtum. Überwiegend Irrtum. Doch nach einiger Zeit fand ich heraus, daß eine Tinktur in extrem hoher Verdünnung ein äußerst potentes Beruhigungsmittel ergab. Wie du ja nun selber feststellen kannst. Das Zeug ist phantastisch. Wir könnten es in der ganzen Galaxis verkaufen, wenn wir die Möglichkeit hätten, irgendwas von hier irgendwohin zu transportieren.«
»Und niemand weiß von dieser Droge, außer dir?«
»Außer mir und den Gillies«, sagte er. »Oh, Verzeihung, den Sassen. Und jetzt natürlich dir. Die Nachfrage nach Tranquilizern ist hierorts nicht besonders groß.« Er gluckste. »Weißt du, ich bin heute früh aufgewacht und hatte die aberwitzige Idee, ich könnte die Sassen dazu überreden, daß sie es uns erlauben, an ihr Kraftwerk eine Meerwasser- Entsalzungsanlage anzuschließen, sofern die das Ding jemals in Gang kriegen. Ich wollte ihnen eine lange herzbewegende Nummer vorführen, von wegen Zusammenarbeit zwischen den Spezies. Es war ein blödsinniger Gedanke, eben so dieses Zeug, das einen in der Nacht überkommt und das dann wieder verfliegt wie Nebeldunst, wenn die Sonne aufgeht. Sie wären sowieso niemals darauf eingegangen. Was ich allerdings wirklich machen sollte… ich sollte einen großen Kessel Taubkraut zusammenbrauen und sie damit so richtig sturzbesoffen machen. Ich wette, dann würden sie uns alles hin lassen, was wir wollen.«
Sie sah keineswegs begeistert drein. »Das war doch wohl ein dummer Witz, oder?«
»Ja. Hoffe ich wenigstens.«
»Wenn nicht, dann gib die Idee so schnell wie möglich auf, weil das zu nichts führen kann. Jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, die Sassen um Gefallen zu bitten. Sie sind derzeit ziemlich ernsthaft wütend auf uns.«
»Weswegen?« fragte Lawler.
»Das weiß ich nicht. Aber irgendwas juckt sie derzeit ganz bestimmt. Ich war gestern abend drüben auf ihrer Inselseite, und da steckten sie mitten in einer großen Besprechung. Und als sie mich sahen, reagierten sie ganz und gar nicht freundlich.«
»Tun sie das jemals?«
»Ach, mir gegenüber schon. Aber gestern abend wollten sie nicht einmal mit mir sprechen. Sie ließen mich nicht einmal in ihre Nähe, und sie nahmen ihre Mißfallensstellung ein. Verstehst du was von ihrer Körpersprache? Sie waren brettersteif!«
Wegen der Taucher, dachte er. Sie mußten bereits von dem Unfall mit den Tauchern gewußt haben. Also deshalb. Aber darüber wollte er jetzt nicht reden; nicht mit der Frau da und auch sonst mit keinem.
»Die Sache mit diesen Aliens«, sagte er, »ist eben, daß sie so anders sind. Sogar wenn wir uns einbilden, wir verstehen sie, kapieren wir ganz und gar nichts. Und ich sehe auch nicht, wie sich dieses Problem lösen lassen sollte. Aber hör mal, wenn dein Husten in zwei, drei Tagen nicht verschwindet, dann komm noch einmal her, und ich mach noch ein paar weitere Tests. Aber hör damit auf, dich selber zu zermürben mit der Angst vor Killer-Pilzen in deinen Lungen, ja? Was immer da ist, mykologisch ist es nicht.«
»Eine erfreuliche Auskunft«, sagte sie. Sie trat noch einmal vor das Bord mit Lawlers Artefakten. »Und diese kleinen Sächelchen stammen alle von der ERDE?«
»Ja. Mein Ur-Urgroßvater hat sie gesammelt.«
»Wirklich? Echte Gegenstände von der ERDE?« Vorsichtig berührte sie die ägyptische Statuette, dann den Steinsplitter, der von irgendeiner bedeutenden Mauer stammte (Lawler hatte vergessen, welche Mauer und was ihre Bedeutung gewesen war). »Echte Stücke von der ERDE. Ich habe noch nie vorher so etwas gesehen. Weißt du, die ERDE kommt mir nicht einmal als etwas Wirkliches vor. Eigentlich war sie das für mich noch nie.«
»Für mich schon«, sagte Lawler. »Aber ich kenne viele, die ebenso empfinden wie du. Sag mir Bescheid über deinen Husten, okay?«
Sie bedankte sich und kroch hinaus.
Und jetzt endlich mein Frühstück, sagte Lawler sich. Endlich! Ein hübsches Peitschenfischfiletchen, Algentoast und frischgepreßten Mamagordo-Saft!
Doch er hatte es zu lang hinausgeschoben. Er hatte keinen rechten Appetit mehr und stocherte nur an seinem Frühmahl herum.
Eine Weile später erschien ein weiterer Patient vor dem Vaargh. Brondo Katzin, der den Fischmarkt auf der Insel betrieb, hatte einen nicht völlig toten Pfeilfisch verkehrt angefaßt, und nun steckte ihm ein dicker, glatter, fünf Zentimeter langer Grätenpin mitten durch die linke Hand, von einer Seite zur anderen. »Das mußte dir mal vorstellen, wie einer dermaßen blöd sein kann…«, wiederholte Katzin, ein Kerl mit einer Brust wie ein Faß und einem ebenso großen leeren Kopf. »Das mußte dir vorstellen!« Seine Augen waren vor Schmerz herausgequollen, die Hand war geschwollen und schimmerte wächsern und war doppelt so groß wie normal. Lawler schnitt die Dorngräte heraus, tupfte die Wunde von beiden Seiten gründlich aus, um das Gift und andere Reizstoffe herauszuwaschen, und gab dem Fischhändler eine Handvoll Gemberkrauttabletten gegen die Schmerzen. Katzin glotzte seine geschwollene Pranke an und schüttelte trübselig den Kopf. »Dermaßen blöd…«, wiederholte er.
Lawler hoffte, daß er die Trichome soweit entfernt hatte, daß die Wunde nicht zu eitern begann. Wenn nicht, bestand für Katzin die Gefahr eines Gangräns, und er würde die Hand, vielleicht gar den ganzen Arm verlieren. Eine Arztpraxis, dachte Lawler, ist bestimmt etwas leichter zu betreiben auf einem Planeten mit einigem festen Boden unter den Füßen, mit einem Raumflughafen und überhaupt so was wie modernerer Technik… Nun, er tat sein Bestes mit dem, was er zur Verfügung hatte. Und — jucheissa — der Tag hatte grad begonnen!
4
Gegen Mittag Kroch Lawler aus seinem Vaargh, um eine kurze Arbeitspause einzulegen. Es war der seit Monaten der geschäftigste Morgen gewesen. Angesichts der Humangesamtbevölkerung von achtundsiebzig Personen auf der Insel, von denen überdies die meisten recht gesund waren, vergingen manchmal Tage, ohne daß Lawler einen einzigen Patienten zu versorgen hatte. An solchen Tagen verbrachte er den Morgen gern damit, in der Lagunenbucht umherzuwaten und medizinisch nutzbare Algen zu sammeln. Natim Gharkid half ihm dann oft dabei und wies ihn auf die eine und andere brauchbare Pflanze hin. Manchmal aber trödelte Lawler nur einfach, schlenderte umher, schwamm, fuhr in einem Fischerboot auf die Lagune, oder er saß nur still da und schaute aufs Meer. Heute war kein solcher Tag. Zuerst war da Dana Sawtelles Kleiner mit Fieber, dann kam Marya Hain mit Krämpfen, weil sie am Abend zuvor zu große Mengen Crawl-Austern gegessen hatte. Ninber Tanamind, bei dem der gewohnte Tremor und die Migräne wieder eingesetzt hatten. Der junge Bard Thalheim mit einer üblen Knöchelverstauchung nach allzu unbedachter Herumtollerei auf der glatten Seite der Ufermauer. Lawler murmelte die passenden Beschwörungsformeln, behandelte mit den am geeignetest erscheinenden Salben und schickte sie allesamt mit den vertrauten Prognosen und Beruhigungen fort. Höchstwahrscheinlich würden sie sich in ein, zwei Tagen schon besser fühlen. Der gewohnte Dr. Lawler war vielleicht keine medizinische Leuchte als Praktiker, doch Dr. Placebo, sein unsichtbarer Assistent, brachte es dennoch meist früher oder später zuwege, die Patienten von ihren Beschwerden zu befreien. Im Augenblick aber wartete kein Patie nt mehr auf Lawler, und es erschien ihm als ein guter ärztlicher Rat für den Doktor persönlich, etwas frische Luft zu schöpfen. Er trat in die helle Mittagssonne, streckte sich, vollführte mit ausgebreiteten Armen einige Kreiselbewegungen. Dann spähte er hangabwärts zum Hafen. Dort lag die Bucht, friedlich, freundlich, vertraut, das stille eingeschlossene Lagunenwasser sanft gekräuselt. In diesem Moment sah es wundervoll schön aus, eine gläserne, leuchtend-golden schimmernde Fläche, ein glühender Spiegel. Die dunklen Wedel der verschiedenen Meerespflanzen schwangen träge im seichteren Bereich. Weiter draußen durchschnitten hin und wieder blitzende Finnen den Glast. An der Pier der Werft dümpelten ein paar von Delagards Booten in der Dünung. Lawler hatte das Gefühl, als könne dieser Sommermittag ewig weiterdauern, als würden Nacht und Winter nie mehr zurückkehren. Unverhofft durchströmte ein Gefühl des Friedens und Wohlbehagens seine Seele: ein Geschenk, ein Stückchen zufälliges Glück.