»Lawler«, sagte eine Stimme zu seiner Linken.
Eine trockene, brüchige, krächzende Stimme, eine Knochenstatt- Stimme, knirschend von Asche und Geröll. Ein elendes, undeutliches, ausgebranntes Wrack von Stimme, das Lawler dennoch irgendwie als die Stimme Nid Delagards erkannte.
Er war über den Südweg vom Ufer herangekommen und stand nun zwischen Lawlers Vaargh und dem kleinen Bottich, in dem Lawler seine frisch gesammelten Algen für medizinische Zwecke aufbewahrte. Delagard wirkte erhitzt, zerknautscht und verschwitzt, und die Augen waren merkwürdig glasig, als hätte ihn ein Schlaganfall gestreift.
»Was ist denn jetzt schon wieder passiert, verdammt noch mal?« fragte Lawler sehr ärgerlich.
Delagard gab ein wortloses Schmatzen von sich, sein Mund schnappte wie der eines Fisches auf dem Trocknen, aber es kam nichts.
Lawler preßte die Finger in die fleischige Masse von Delagards Arm. »Kannst du nicht reden? Verdammt, nun mach schon! Sag mir, was passiert ist!«
»Jaah. Jaah.« Delagard bewegte schwerfällig und langsam den Kopf wie einen axial taumelnden Ball. »Es ist ganz furchtbar schlimm. Schlimmer, als ich mir je vorgestellt habe.«
»Ja, was denn?«
»Ach, diese verdammten Taucher. Die Gillies sind wegen denen wirklich enorm aufgebracht. Und sie wollen es uns ganz besonders dick zeigen. Enorm dick! Das hab ich dir heute früh sagen wollen, dort drunten im Schuppen, ehe du abgehauen bist.«
Lawler zwinkerte ein paarmal mit den Lidern. »In Gottes Namen, was quasselst du da eigentlich?«
»Gib mir mal erst einen Schnaps.«
»Ja. Aber ja. Komm rein.«
Er goß für Delagard ein deftiges Quantum von dem dicklichen meerfarbenen Gesöff ein, dann, nach kurzem Zögern, versorgte er sich mit einer etwas kleineren Menge. Delagard schüttete seinen Drink auf einen Zug hinunter und hielt den Becher zum Nachfüllen hin. Und Lawler schenkte ihm ein.
Nach einer Weile begann Delagard zu sprechen. Er tastete sich durch die Wörter, als sei er von einer plötzlichen Sprechlähmung befallen. »Die… die Kiemlinge sind vorhin zu mir gekommen, mich besuchen, ungefähr zehn, zwölf. Direkt aus dem Wasser sind sie raufgekommen und in die Werft und haben meine Leute aufgefordert, sie sollen mich rausholen, weil sie mit mir reden wollten.«
Was war das? Gillies? Auf dem von Menschen bewohnten Inselende? So etwas hatte es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Die Gillies kamen nie weiter südwärts als bis zu der Landzunge, auf der sie ihr Kraftwerk gebaut hatten. Niemals.
Delagard warf Lawler einen gequälten Blick zu.
»›Was wollt ihr von mir?‹ hab ich sie gefragt. Mit den entsprechenden feinsten Höflichkeitsgesten, Lawler, bestimmt, alles in feinster Manier. Ich glaube, die Gillies, die da gekommen waren, das waren ihre ganz großen Gillie-Bosse, aber woher sollte man das sicher wissen? Man kann sie doch nicht unterscheiden, oder? Jedenfalls, sie haben irgendwie bedeutend ausgesehen. Sie fragten: ›Bist du Nid Delagard?‹ Als wenn sie das nicht wüßten. Und ich hab das bestätigt und dann haben sie mich erwischt.«
»Dich erwischt?«
»Ich meine, sie haben mich leibhaftig gepackt. Haben ihre komischen kleinen Flossen auf mich gelegt. Mich an die Mauer meiner eigenen Werft gedrückt und mich mit Gewalt festgehalten.«
»Du kannst von Glück sagen, daß du überhaupt noch da bist und drüber reden kannst.«
»Mach keine Witze, Doc. Ich sag dir, ich hab eine Scheißangst gekriegt. Ich glaubte schon, die werden mich da an Ort und Stelle ausnehmen und filetieren. Da! Da schau nur, die Spuren von ihren Klauen auf meinem Arm.« Er präsentierte als Beweis ein paar schwach rötliche Hautstellen. »Und mein Gesicht ist geschwollen, oder? Ich hab versucht, den Kopf wegzudrehen, aber einer von den Typen hat mir eine verpaßt. Vielleicht unabsichtlich, aber schau dir das mal an, schau nur! Zwei von ihnen haben mich festgehalten, und ein dritter schob mir die Nase ins Gesicht und fing an, mir Sachen zu sagen, und ich mein, er hat mich damit regelrecht vollgesabbert, Sachen, mit lautem dröhnenden Gebell… oumwang-boufff-ßßßiezzd und so weiter. Zuerst war ich dermaßen durcheinander, daß ich überhaupt nichts kapiert hab. Aber dann fing ich an klar zu begreifen. Weil, die wiederholten das nämlich immer und immer wieder, bis sie sicher waren, ich hab es kapiert. Und was es war, es war ein Ultimatum!« Delagards Stimme sank einige Oktaven tiefer. »Wir sind von der Insel verbannt. Sie schmeißen uns raus! Wir haben dreißig Tage Zeit, von hier zu verschwinden. Alle, bis zum letzten Kind.«
Plötzlich hatte Lawler das Gefühl, als wiche der Boden unter seinen Füßen weg.
»Was?«
In Delagards Augen lag nun ein hartes, verzweifeltes Glitzern. Er forderte mit einer Handbewegung einen weiteren Becher Schnaps. Lawler goß ein, ohne darauf zu achten, wieviel. »Jeder menschliche Insulaner, der sich nach diesem Termin noch auf Sorve aufhält, wird in die Lagune geworfen und darf nicht wieder an Land. Alles, was wir hier erbaut haben, wird zerstört. Der Wasserspeicher, die Werft, die Gebäude da auf dem Platz, alles. Was wir in unseren Vaarghs zurücklassen, wird ins Meer geworfen. Alle hochseetüchtigen Schiffe, die wir im Hafen zurücklassen, werden versenkt. Wir sind erledigt, Doc! Sorve ist nicht mehr unsere Insel. Wir sind verbannt, erledigt, kaputt!«
Lawler starrte ihn ungläubig an. Ein kreisender Wirbel von Gefühlen durchströmte ihn rasch: Orientierungsverlust, Deprimiertheit, Verzweiflung. Dann wurde er verwirrt und begriff nicht mehr. Von Sorve fortgehen? Weg von Sorve?