Lawler wies mit dem Kopf zur Tür. Auf einmal drangen von dem langgestreckten dreieckigen Platz, der die zwei Vaargh-Siedlungen der Insel trennte, Rufe und lautes Geschrei.
Delagard nickte. »Doch, ja, jetzt hör ich’s. Vielleicht ein Unfall?«
Aber Lawler war bereits zur Tür hinaus und strebte in weiten eiligen Schritten dem Platz zu.
An der ›Plaza‹ standen drei wettergebeutelte Gebäude — eigentlich eher Schuppen, Nissenhütten, wackelige Unterschlupfe, an jeder Seite eines. Das größte ›Gebäude‹, zum Inselinnern gelegen, war die Schule. An dem nähergelegenen der zwei hangabwärts weisenden Dreiecksschenkel lag das kleine Cafe, das Lis Nikiaus betrieb, Delagards ›Weib‹. Gegenüber lag das Gemeindezentrum.
Vor der Schule stand ein aufgeregt brabbelndes Häuflein Kinder. Die beiden Lehrer waren auch da. Vor dem Gemeindezentrum schwankte ein Halbdutzend der älteren männlichen und weiblichen Menscheninsulaner taumelnd, wie von einem Hitzschlag getroffen, wild im Kreis herum. Lis Nikiaus war vor ihr Cafe getreten und starrte mit weit offenem Mund ins Leere. Gegenüber befanden sich zwei von Delagards Bootskapitänen: der vierschrötige Klotz Gospo Struvin und der langbeinige schmale Bamber Cadrell. Sie standen oben an der Rampe, die vom Uferkai auf die Plaza führte, und sie klammerten sich ans Geländer wie Männer, die darauf warten, daß jede Sekunde eine Flutwelle über sie hinwegrasen wird. Dazwischen, und den Platz mit seiner Körpermasse teilend, stand der Koloß des Fischhändlers Brondo Katzin wie ein riesenhaftes betäubtes Tier und stierte auf seine nicht mehr bandagierte rechte Hand, als wäre ihm auf dieser soeben ein Auge gewachsen.
Aber es gab nirgends Anzeichen für einen Unfall, nirgendwo einen Verletzten.
»Was ist denn hier los?« fragte Lawler.
Lis Nikiaus wandte sich auf eine merkwürdig schwerfällige Art ihm zu. Sie schwang mit dem ganzen Körper herum wie eine Statue. Eine große Frau, fest und massiv im Fleisch, ein gewaltiger gelber Haarwust, und die Haut so tiefgebräunt, daß sie beinahe schwarz wirkte. Delagard hatte seit dem Tod seiner Frau mit ihr zusammengelebt, seit fünf, sechs Jahren, sie aber nicht geheiratet. Vielleicht, um das Erbe für seine Söhne nicht zu gefährden, munkelten die Leute. Er hatte vier erwachsene Söhne, von denen jeder auf einer anderen Insel lebte.
Heiser, fast wie erstickt, sagte Lis: »Bamber und Gospo sind grad von der Werft raufgekommen… und sie sagen, die Gillies sind hergekommen… sie haben gesagt… sie haben uns… sie haben Nid gesagt…«
Ihre Stimme verlor sich in einem unzusammenhängenden Gestammle.
Die verhutzelte, zwergenhafte Mendy Tanamind, Nimbers uralte Mutter, sagte piepsend: »Wir müssen fort! Wir müssen fort!« Und sie kicherte schrill.
»Da ist gar nichts komisch dran«, sagte Sandor Thalheim. Der war ebenso uralt wie Mendy. Er schüttelte heftig den Kopf, so daß sein bartsprossiger Kehlwammensack wabbelte.
»Und das alles wegen ein paar Viechern«, sagte Bamber Cadrell. »Wegen drei dummen toten Tauchern.«
Also hatte sich die Neuigkeit bereits herumgesprochen. Schlimm, schlimm, dachte Lawler. Delagards Leute hätten die Klappe halten sollen, bis wir uns was ausgedacht haben, wie wir mit der Sache fertigwerden können.
Jemand schluchzte. Mendy Tanamind kicherte wieder. Brondo Katzin durchbrach seine Erstarrung und knurrte unablässig vor sich hin: »Die verfluchten stinkigen Gillies!«
»Was ist denn hier los?« fragte Delagard, der endlich auch auf dem Pfad von Lawlers Vaargh herangestampft kam.
»Deine Kerle Bamber und Gospo haben es übernommen, die Neuigkeit zu verbreiten«, sagte Lawler. »Jetzt wissen alle Bescheid.«
»Was? Wie? Die Mistkerle! Die mach ich fertig!«
»Dafür ist es ein bißchen zu spät.«
Weitere Leute kamen jetzt auf die Plaza. Lawler sah Gabe Kinverson, Sundira Thane, Father Quillan, die Sweyners. Und dicht hinter ihnen noch mehr Leute. Sie drängten heran, vierzig, fünfzig, sechzig Personen, praktisch alle. Sogar fünf oder sechs der Klosterschwestern waren da und hielten sich dicht in einem weiblichen Stoßtrupp zusammen. Die Sicherheit in der Masse, dachte Lawler. Dag Tharp tauchte auf. Marya und Gren Hain. Jose Yanez, Lawlers siebzehnjähriger Lehrling, der eines Tages der nächste Inseldoktor hatte sein sollen. Onyos Felk, der Kartograph. Natim Gharkid war von den Algenfeldern heraufgekommen, er war naß bis zur Hüfte. Also hatte sich inzwischen die Nachricht in der ganzen Gemeinde verbreitet.
Auf den Gesichtern war zumeist Schock zu lesen, Verblüffung und Ungläubigkeit. Ist es wahr? fragten sie. Kann so was möglich sein?
Delagard rief laut: »Hört mir mal alle zu. Es besteht keinerlei Grund zu Besorgnis! Wir werden die Geschichte zurechtbügeln!«
Gabe Kinverson trat zu Delagard. Er wirkte doppelt so groß wie der Reeder, war ein gewaltiger Brocken Mann, nichts als vierschrötiges Kinn, massige Schultern und kalte, meergrün funkelnde Augen. Er war stets irgendwie von einer Aura von Gefahr, von potentieller Gewalttätigkeit umgeben.
»Die haben uns rausgeschmissen?« fragte Kinverson. »Die haben wirklich gesagt, wir müssen weg?«
Delagard nickte.
»Wir haben dreißig Tage Zeit, dann müssen wir fort sein. Haben sie sehr deutlich zu verstehen gegeben. Es kümmert sie nicht, wohin wir gehen, aber wir dürfen nicht mehr hierbleiben. Aber ich werde alles schon richtig schaukeln. Da könnt ihr euch drauf verlassen.«
»Mir scheint’s, du hast bereits alles geschaukelt«, sagte Kinverson. Delagard wich einen Schritt zurück und glotzte ihn an, als mache er sich kampfbereit. Aber der Wasserjäger wirkte eher verwirrt als zornig. »Dreißig Tage und dann weg«, sagte er halb zu sich selber. »Das haut ja wohl alles um!« Er kehrte Delagard den Rücken zu, kratzte sich den Hinterkopf und schritt davon.
Vielleicht macht sich Kinverson ja tatsächlich weiter keine Sorgen, dachte Lawler. Der verbrachte sowieso ganz allein die meiste Zeit auf dem Meer und machte Jagd auf alle möglichen Fische, die nicht in die Lagunenbucht kommen mochten. Kinverson hatte nie aktiv am Gemeinschaftsleben auf Sorve teilgenommen; er schwamm hindurch, ähnlich wie die Inseln auf Hydros im Ozean drifteten, verschlossen, unabhängig, gut geschützt, irgendeinen selbstgewählten Kurs steuernd.
Aber andere reagierten viel aufgeregter. Eliyana, Brondo Katzins zerbrechlich wirkende goldhaarige Partnerin, schluchzte wild. Father Quillan versuchte sie zu trösten, war aber sichtlich selbst recht durcheinander. Die verhutzelten alten Sweyners redeten leise heftig miteinander. Einige der jüngeren Frauen mühten sich, ihren verängstigten Kindern die Vorgänge zu erklären. Lis Nikiaus hatte aus ihrem Cafe ein Gemäß Traubenkrautschnaps geholt, und das kreiste nun rasch zwischen den Männern, die daraus heftige, dumpf-verzweifelte Schlucke tranken.
Lawler sagte leise zu Delagard: »Und wie, präzise gesagt, willst du mit dem Ganzen fertigwerden? Hast du irgendwie einen Plan?«
»Hab ich«, erwiderte Delagard. Auf einmal wirkte er wieder wie voller ungezähmter Energie. »Ich hab dir doch gesagt, ich übernehme die volle Verantwortung, und das meinte ich ernst. Ich werde auf meinen Knien zu den Gillies rutschen, und wenn ich ihnen die — äh — Hinterflossen lecken muß, dann tu ich das und bitte um Vergebung. Und sie werden früher oder später weich werden. Sie werden nicht wirklich auf diesem gottverdammten absurden Ultimatum beharren.«
»Ich bewundere deinen Optimismus.«
Delagard redete weiter: »Und wenn die nicht nachgeben wollen, dann biete ich mich freiwillig für die Exilierung an. Bestraft nicht das ganze Volk, werde ich sagen. Nur mich. Ich bin der Schuldige. Ich will nach Velmise ziehen, oder nach Salimil, oder an jeden Ort, der euch genehm ist, und ihr werdet meine Visage auf Sorve niemals wieder zu Gesicht bekommen, das ist ein feierliches Gelöbnis… Lawler, es wird funktionieren. Die Gillies sind vernünftige Geschöpfe. Sie werden einsehen, daß es keinem vernünftigen Zweck dient, wenn sie eine alte Dame wie hier unsere Mendy von der Insel vertreiben, die achtzig Jahre lang ihre Heimat war. Ich bin der Schurke, der mörderische Taucherkiller-Schuft, und ich werde verschwinden, wenn es sein muß. Allerdings glaube ich kein bißchen daran, daß es soweit kommen wird.«