Ich werde von der Insel Sorve fortgehen, dachte er.
Ich werde an einem anderen Ort sein, auf einer Insel, die ich nicht kenne, unter Menschen leben, von denen ich nicht ihre Namen weiß, nicht ihre Herkunft, und deren inneres Wesen mir ein absolutes Rätsel sein wird.
Er sagte sich, das wird schon gutgehen, und in ein paar Wochen fühlst du dich auf Thibeire, Velmise, Kaggeram oder wie immer die Insel heißen wird, auf der du dich schließlich niederläßt, ebenso heimisch wie auf Sorve. Aber er wußte auch, daß dies nicht stimmte. Dennoch redete er sich das unablässig ein.
Sich damit abzufinden, das schien zu helfen. Hinnahme, vielleicht gar Gleichgültigkeit. Das Blöde war nur, daß er nicht beständig auf diesem reduzierten Niveau eines betäubten Bewußtseins verharren konnte. Immer wieder flackerte in ihm plötzlich schockhaft Bestürzung auf, das Gefühl eines drohenden unerträglichen Verlusts, ja sogar ganz unverhohlene Furcht. Und dann mußte er wieder von vorn beginnen.
Als die Dämmerung kam, kroch Lawler aus seinem Vaargh und machte sich auf den Weg zum Uferwall hinab.
Zwei Monde waren bereits aufgegangen und ein blasser Splitter von Sunrise war wieder am Firmament aufgetaucht. In der Bucht zuckten die Dämmerungsfarben, la nge goldene Reflexe in Streifen, und purpurne, und sie verblichen rasch zum Nachtgrau, während er noch hinsah. Im seichten Wasser schwammen zielstrebig die Schatten rätselhafter Meeresgeschöpfe umher. Alles war so friedlich: die Bucht im schwindenden Tageslicht, so still, so verzaubert.
Dann aber schlichen sich Vorstellungen von der bevorstehenden Seereise in seine Gedanken. Er blickte über das Hafenbecken hinaus auf die weite Wüste der feindlichen, unbegreiflichen See. Wie weit würden sie segeln müssen, bis sie auf eine Insel stießen, die sie aufzunehmen bereit wäre? Ein Turn von einer Woche? Von zwei Wochen? Oder von einem Monat? Lawler war nie draußen auf hoher See gewesen, nicht einmal einen einzigen Tag lang. Damals, diese Fahrt nach Thibeire, die war doch nur ein Tagesausflug in einem Fell-Rindenboot gewesen, kaum über das Flachwasser hinaus zu der anderen Insel, die damals so nahe an Sorve herangedriftet war.
Lawler erkannte, daß er sich vor dem Meer fürchtete. Die See, das war ein gewaltiges, ein weltweites Maul, das (wie er es sich manchmal vorstellte) in irgendeinem urtümlichen Schluckkrampf ganz Hydros konvulsivisch verschlungen haben mußte, wobei nur diese winzigen Treibinseln übrig geblieben waren, die von den Gillies erbaut worden waren. Und diese See würde auch ihn verschlingen, wenn er versuchen würde, sie zu durchqueren.
Ärgerlich hielt er sich selber vor, daß so etwas töricht sei, daß schließlich Männer wie Gabe Kinverson Tag um Tag auf die hohe See hinausführen und es überlebten, daß Nid Dela gard hundertmal zwischen den Inseln gesegelt sei, daß Sundira Thane sogar von einer Insel aus dem Azurro-Meer nach Sorve gekommen war, und das lag dermaßen weit weg, daß er davon noch nicht einmal etwas gehört hatte. Nein, es würde schon alles gut verlaufen. Er würde eben eines von Delagards Booten besteigen, und nach einer Woche oder auch nach zweien würde er darin zu der Insel gelangen, die dann seine künftige Heimstatt sein würde.
Und dennoch — die Schwärze, die Unermeßbarkeit, die zerschmetternde Kraft dieser schrecklichen weltumspannenden See… »Lawler?« rief eine Stimme.
Er wandte sich um. Zum zweitenmal an diesem Tag trat Nid Delagard hinter ihm aus dem Schatten.
»Also komm doch«, sagte der Reeder. »Es wird schon spät. Gehen wir und reden wir mit den Gillies«.
5
Ein kleines Stück weiter unten an der Küste schimmerte im Kraftwerk der Gillies elektrisches Licht. Weitere Lampen, zu Dutzenden, vielleicht Hunderten, waren in den Straßen der Gillie — Siedlung dahinter entzündet. Die unerwartete Katastrophenmeldung von der Ausweisung hatte das andere bedeutende Tagesereignis vollkommen überschattet: Den Beginn der turbinengetriebenen Elektrostromerzeugung auf Sorve Island.
Es war ein kühles grünliches, ein irgendwie trügerisches Licht. Die Gillies verfügten über eine Art Technologie, die so etwa den Entwicklungsstand des achtzehnten, neunzehnten Jahrhunderts auf dem Planeten ERDE erreicht hatte, und sie hatten so was wie eine Glühbirne erfunden, indem sie für die Glühfäden Fasern des extrem vielseitig anwendbaren See-Bambus benutzten. Die ›Birnen‹ waren kostspielig und schwierig zu produzieren, und die große Voltaische Säule, die bisher die einzige Stromquelle der Insel gewesen war, war schwerfällig und eigensinnig und gab nur träge und unzuverlässig Elektrizität ab, außerdem brach sie beständig zusammen. Nun aber — nach wieviel Jahren Arbeit? Fünf? Zehn? — erglommen die Glühbirnen der Insel durch die Energie aus einer neuen, unerschöpflichen Quelle aus dem Meer: Warmes Oberflächenwasser wurde zu Dampf konvertiert, der Dampf trieb den Turbinengenerator an, aus dem Generator floß der Strom und brachte die Lampen auf Sorve zum Leuchten.
Die Gillies waren bereit gewesen, den Menschen auf der anderen Inselhälfte einen Teil des Stroms abzugeben, im Gegengeschäft: Sweyner sollte ihnen dafür Glühbirnen liefern, Dann Henders sollte bei der Verkabelung helfen, usw. Lawler — neben Delagard, Nicko Thalheim und ein, zwei weiteren Männern hatte eine wesentliche Rolle bei diesem Arrangement gespielt. Es war der einzige bescheidene Triumph ihrer Bemühungen um ›zwischenrassische Kooperation‹ gewesen, den die Menschen in den letzten paar Jahren erreicht hatten. Die Verhandlungen hatten sich zäh und mühselig über fast sechs Monate hingezogen.
Noch an diesem Morgen, erinnerte sich Lawler, hatte er gehofft, er könnte ganz allein ein ähnliches Kooperationsabkommen mit den Gillies aushandeln. Jetzt kam ihm das vor, als läge es Millionen Jahre zurück. Und jetzt trotteten sie hier dahin in der beginnenden Nacht, um zu betteln, daß man sie doch wenigstens weiter auf der Insel leben lassen möge.
Delagard sagte: »Wir gehen direkt zur Häuptlingshütte, ja? Hätte in dem Fall ja auch wenig Zweck, sich nicht gleich an die Spitze zu wenden.«
Lawler zuckte die Achseln. »Wie du meinst.«
Sie machten einen Bogen um das Kraftwerk und strebten darin, immer noch entlang der Küste, auf das Gillie -Gebiet zu. Die Insel wurde hier rasch breiter und stieg von dem niedrigen Niveau hinter dem Kai zu einem weiten runden Plateau an, auf dem im wesentlichen die Gillie- Siedlung stand. Jenseits davon befand sich ein steiler Abhang, an dem die dicke hölzerne Uferbefestigung der Insel direkt an den tief unten liegenden dunklen Ozean grenzte.
Das Gillie-Dorf war in einer unregelmäßigen Rundform angelegt; die wichtigsten Gebäude lagen in der Mitte, die übrigen ungeordnet über die Peripherie verteilt. Der hauptsächliche Unterschied zwischen diesen Bautypen schien ihre Dauerhaftigkeit zu sein; die im Zentrum, anscheinend für Zeremonialzwecke bestimmt, waren aus den gle ichen Kelpholzbohlen errichtet, aus denen die Insel selbst auch gebaut war; die äußeren, in denen die Gillies wohnten, waren schlampig errichtete zelt- oder hüttenähnliche Gebilde aus feuchtem grünen Seegras, das locker auf Seebambusstangen lag. In der heißen Sonne verströmten sie einen scheußlichen Fäulnisgeruch, und sobald die Bedachung einen gewissen Grad der Trocknung erlangt hatte, wurde sie entfernt und durch frisches Gras ersetzt. Eine spezielle ›Kaste‹ unter den Gillies schien unablässig damit beschäftigt zu sein, diese Hütten abzureißen und neue zu errichten.
Um den Teil der Insel zu umwandern, den die Gillies für sich beanspruchten, würde man etwa einen halben Tag brauchen. Als Lawler und Delagard bis zum Zentrum der Siedlung gelangt waren, war Sunrise bereits untergegangen, und das Hydros-Kreuz strahlte hell am Firmament.
»Da sind sie«, sagte Delagard. »Laß mich erst mal reden. Wenn sie anfangen und werden gemein, steigst du ein. Es ist mir egal, wenn du ihnen sagst, daß du mich für einen abgebrühten Scheißkerl hältst. Wenn es nur funktioniert.«