Er griff nach der Schnapsflasche und füllte sich seinen Becher selber wieder.
Delagard sagte: »Und wenn auch Salimil uns nicht aufnehmen will, dann haben wir da drunten noch Kaggeram, oder Shakran… oder sogar Grayvard. Ich hab Verwandte dort. Ich denke, ich werde da schon was drehen können. Das wäre dann eine Fahrt von acht Wochen.«
Acht Wochen? Lawler versuchte sich das vorzustellen.
Nach einer Weile sagte er: »Niemand wird binnen dreißig Tagen Platz für achtundsiebzig Menschen schaffen können. Velmise nicht, Salimil nicht, keiner.«
»In dem Fall werden wir uns eben in Kontingente aufteilen müssen, und einige gehen dahin, die übrigen dorthin.«
»Nein!« Lawler reagierte plötzlich sehr heftig.
»Nein?«
»Ich will das nicht… Ich will, daß die Gemeinde beisammenbleibt.«
»Und wenn das nicht möglich ist?«
»Wir müssen einen Weg finden. Wir dürfen nicht Menschen, die ihr Leben lang miteinander gelebt haben, über den ganzen verdammten Ozean zerstreuen. Wir sind eine einzige Familie, Nid.«
»Sind wir das? Also, ich glaube, ich seh das nicht so.«
»Dann siehst du es eben jetzt mal so!«
»Na ja, also…« — Delagard saß still da und runzelte die Stirn — »… im äußersten Fall könnten wir ja auch einfach auf einer Insel landen, die nicht dauernd von Menschen bewohnt ist oder grad jetzt nicht, und wir könnten die dort hausenden Gillies um Asyl bitten. So was hat es schon früher mal gegeben.«
»Ja, aber die Gillies würden wissen, daß wir von unseren eigenen Gillies hier vertrieben wurden, und warum.«
»Vielleicht würde das keine Rolle spielen. Du kennst sie doch ebensogut wie ich, Doc. Es gibt ’ne Menge von ihnen, die uns gegenüber ziemlich tolerant sind. Für die sind wir weiter nichts als wieder ein neuer Beweis, ein Beispiel für die unergründlichen Abläufe des Universums, etwas, das ihnen einfach zufällig aus dem großen Meer des Raumes an den Strand gewaschen wurde. Sie wissen durchaus, daß es sinnlos ist, an den unerforschlichen Ratschlüssen des Universums herumzurätseln. Und deshalb, vermute jedenfalls ich, haben sie uns einfach achselzuckend aufgenommen, als wir ursprünglich zu ihnen kamen.«
»Die Gescheitesten unter ihnen denken vielleicht so. Aber die übrigen verabscheuen uns und wollen mit uns nicht das geringste zu tun haben. Warum aber sollten uns die Gillies einer anderen Insel aufnehmen, nachdem uns die Gillies auf Sorve als Mörderbande hinausgeworfen haben?«
»Wir werden’s schon schaffen«, sagte Delagard gelassen, sichtlich völlig unberührt von dem häßlichen Wort. Er wiegte seinen Drink zwischen beiden Handflächen und starrte in den Becher. »Wir gehen nach Velmise. Oder nach Salimil. Oder nach Grayvard, wenn’s sein muß. Oder an irgendeinen vollkommen neuen Ort. Und wir bleiben alle beisammen und bauen uns ein neues Leben auf. Dafür werde ich sorgen. Du kannst dich drauf verlassen, Doc.«
»Hast du genug Schiffe für uns alle?«
»Ich habe sechs. Dreizehn Mann pro Boot, und wir werden uns noch nicht einmal beengt fühlen. Hör auf, dir Sorgen zu machen, Doc. Trink noch einen.«
»Ich hab mich grad bedient.«
»Aber du hast wohl nichts dagegen, wenn ich…?«
»Aber bitte.«
Delagard lachte. Er wurde nun allmählich sichtlich betrunken. Er streichelte den Globus, als wäre es die Brust einer Frau, dann hob er die Kugel behutsam hoch und verstaute sie wieder in der Lade. Der Schnapskürbis war nahezu leer. Delagard zauberte von irgendwo her eine neue Flasche und goß sich kräftig ein. Er schwankte ein wenig dabei, fing sich aber kichernd wieder.
Nuschelnd sagte er: »Ich versichre dir eins feierlich, Doc, und das ist, ich werd mir den Arsch aufreißen, damit wir ’ne neue Insel kriegen, und ich werd uns sicher hinbringen. Du glaubst mir das doch, Doc, wenn ich es dir sage, ja?«
»Aber sicher glaube ich dir.«
»Und du kannst mir auch in deiner Herzenstiefe verzeihen, was ich da mit diesen Tauchern gemacht hab?« fragte er brabbelnd.
»Na sicher. Klar.«
»Du bist ein Lügner, Doc. Du vera… verabscheust mich ganz und gar…«
»Jetzt komm mal wieder runter, Nid. Was passiert ist, das ist passiert. Wir müssen eben jetzt einfach damit zu leben versuchen.«
»Gesschbrochen wie der wahre Phi… Philosoph. Komm, trink noch ein‹ mit mir.«
»Mir recht.«
»Und auch noch einen für den guten alten Nid Delagard. Und wieso auch nicht? Noch ’en Kleinen für den lieben alten Delagard, genau! So, da isser, Nid. Ach, Mann, dank dir, Nid. Ganz, ganz herzlichen Dank, Nid. Verdammt, iss das Zeug gut… Verdammt… gut, das… Zeug…« Delagard gähnte, die Lider sanken ihm herab, der Kopf neigte sich der Tischplatte zu. »Guter… Stoff…«, mummelte er, gähnte wieder, rülpste leise, und dann schlief er ein. Lawler trank aus und verließ den Schuppen.
Es war sehr still draußen, nur das leise Schmatzen der kleinen Lagunenwellen am Ufer war zu hören, und das war er so gewöhnt, daß er es kaum wahrnahm. Es war noch ein, zwei Stunden vor der Dämmerung. Das Kreuz am Himmel brannte wild und schrecklich und durchschnitt das schwarze Firmament von Horizont zu Horizont wie ein leuchtendes vierarmiges Gerüst, das da droben errichtet war, um zu verhindern, daß die Welt ungehemmt durch den Himmel stolperte.
Lawler war von einer Art kristallener Klarheit erfüllt. Fast konnte er sein Gehirn ticken hören.
Er erkannte, daß es ihm nichts ausmachen würde, von Sorve fortzugehen. Das erstaunte ihn. Du bist betrunken, sagte er sich.
Vielleicht war er das. Doch irgendwo, irgendwann im Verlauf der Nacht war der Schock über die verhängte Ausweisung von ihm gewichen. Ob völlig verschwunden oder nur zeitweilig verdrängt, das wußte er nicht. Aber jetzt vermochte er immerhin die Vorstellung plötzlich ins Auge zu fassen, ohne davor zurückzuscheuen. Er würde mit dem Weggang fertigwerden. Nein, da war sogar noch etwas anderes: Die Aussicht auf diesen Abschied hatte etwas — Belebendes, Fröhliches an sich. Wie war das möglich?
Doch, ja, es war irgendwie erregend. Bisher war sein Leben nach einem festen Muster verlaufen, war wie erstarrt gewesen: Lawler, der Arzt auf Sorve, ein Mann aus Erster Familie, ein Lawler-von-den- Lawlers, der mit jedem Tag um einen Tag alterte, seine täglichen Pflichten erfüllte und die Kranken heilte, so gut es eben ging; der am Gestade entlangwanderte, ein bißchen in der Lagune schwamm, mal ein wenig angelte; die erforderliche Zeit aufwandte, um seinem Schüler das Arzthandwerk beizubringen; der aß und trank, alte Freunde besuchte, dieselben alten ›guten‹ Freunde wie in seiner Kindheit; Lawler, der sich dann schlafenlegt, um wieder aufzuwachen und das Ganze von neuem zu beginnen, winters und sommers und winters, in Regentagen und in Dürrezeiten… Doch jetzt sollte sich dieses Webmuster des Alltags ändern. Er würde an einen fremden Ort ziehen, um dort zu leben. Er konnte vielleicht ein ganz ganz anderer sein. Der Gedanke faszinierte ihn. Betroffen stellte er fest, daß er beinahe ein wenig dankbar war. Aber er lebte hier schon dermaßen lange. Er war so lange nur er selbst gewesen.
Also, du bist sturzbesoffen, sagte er noch einmal zu sich. Und lachte. Stinkesturzbesoffen!
Dann kam er auf die Idee, er könnte durch die schlafende Siedlung schlendern, einen sentimentalen Rundgang machen, um Abschied zu nehmen, sich alles so zu betrachten, als wäre dies bereits seine letzte Nacht auf Hydros; er könnte dabei alles noch einmal in der Erinnerung durchleben, was ihm widerfahren war, an dem Platz und an jener Stelle, jede kleine Begebenheit seines Lebens. Wo er mit dem Vater gestanden und aufs Meer hinausgeschaut hatte; wo er den phantastischen Geschichten des alten Jolly gelauscht hatte; wo er seinen ersten Fisch gefangen und zum erstenmal ein Mädchen in den Armen gehalten hatte. Schauplätze seiner Freundschaften und seiner Liebesgeschichten (soweit davon die Rede sein konnte). Den Teil der Bucht, wo er damals Nicko Thalheim beinahe harpuniert hätte. Und die Stelle hinter dem Ossarium, wo er damals den graubärtigen Marinus Cadrell beim Bumsen mit Mariam, Damis Sawtelles Schwester, beobachtet hatte, die jetzt als Nonne im Kloster lebte. Und dabei fiel ihm wieder ein, daß er selber ein paar Jahre später es mit Mariam getrieben hatte, drunten im Gillie — Bezirk, weil sie beide die Gefahr liebten. Alles kam ihm wieder ins Gedächtnis zurück. Die verschwommene dunkle Gestalt seiner Mutter. Seine Brüder, der eine, der viel zu früh gestorben war, und der andere, der zur See gegangen und für immer aus Lawlers Leben davongetrieben war. Und sein Vater, erschreckend in seiner Unermüdlichkeit und Unnahbarkeit, ein von allen verehrter Mann, der ihn unablässig antrieb, medizinische Techniken zu erlernen, wo er doch viel lieber drunten in der Bucht herumgeplanscht hätte… in seinen Knabenjahren, die so gar nicht unbeschwerte Kindheit gewesen waren; so viele unzählbare Stunden ihm aufgezwungenen Studiums, so viel Verzicht auf Spiel und Spaß… Eines Tages wirst du hier der Doktor sein, hatte der Vater ihm immer wieder eingehämmert. Du wirst Arzt sein. Und seine Frau, Mireyl, als sie die Fähre nach Morvendir bestieg. Die Zeit tickte rückwärts. Klick, und es war der Tag seiner Fahrt zur Insel Thibeire. Klick, und er und Nestor Yanez wie besoffen vor Angst und Gelächter vor dem wütenden Gillie -Weibchen, das sie mit Ginzo-Eiern beworfen hatten. Und klick, da war diese Abordnung mit den langen Gesichtern, die ihm eröffnete, daß sein Vater tot sei und er von nun an der Inseldoktor. Klick, und er fand heraus, was es hieß, ein Kind in die Welt zu holen. Klick, und er tanzte fröhlich-betrunken mitten in einer Dreimondnacht auf der äußersten Spitze des Damms… mit Nicko und Nestor Lyonides und Moira und Meela und Quigg… ein fröhlicher, glücklicher junger Valben Lawler, der ihm jetzt vorkam wie jemand, den er einmal, vor vielen Jahren, gekannt hatte. Diese ganze Zeit, seine ganzen über vierzig Jahre Leben auf Sorve zogen retrospektiv an ihm vorbei. Klick, klick, klick.