»Aber wir würden eine Menge von ihnen mitnehmen«, sagte Damis Sawtelle hitzig.
Dan Henders brach in Gelächter aus. »Ins Meer? Ja, richtig! Wir drücken ihnen die Schädel unter Wasser, bis sie ersaufen.«
»Ach, du weißt schon, was ich meine«, brummte Sawtelle. »Wenn die einen von uns umbringen, töten wir einen von ihnen. Wenn sie erst mal Verluste haben, werden sie es sich verdammt rasch überlegen und uns nicht länger vertreiben wollen.«
»Sie würden uns schneller töten, als wir es mit ihnen könnten«, sagte Poilin Stayvols Frau, Leynila. Stayvol war nach Gospo Struvin der rangälteste Kapitän in Delagards Flotte. Derzeit war er gerade mit dem Kentrup-Fährschiff unterwegs. Man konnte sich stets darauf verlassen, daß die stämmige, hitzige Leynila gegen alles opponierte, wofür Damis eintrat. Das war schon seit ihrer Kindheit so. »Sogar Mann um Mann — was würde uns das bringen?« fragte sie herausfordernd.
Dana Sawtelle nickte und ging durch den Raum hinüber und stellte sich neben Marya und Leynila. Die meisten Frauen standen nun auf der einen Seite, und die Handvoll Männer, aus denen die Kriegspartei bestand, auf der anderen. »Leynila hat recht. Wenn wir zu kämpfen versuchen, werden wir alle umkommen. Was hätte das für einen Sinn? Wenn wir kämpften wie großartige Helden, und am Ende wären wir allesamt tot, wieso wäre das besser für uns, als wenn wir einfach in ein Schiff gestiegen und anderswohin gegangen wären?«
Ihr Mann fuhr sie an: »Halt den Mund, Dana!«
»Ich werd den Teufel tun und still sein, Damis! Verdammt, nein! Denk bloß nicht, ich sitz hier lammfromm wie ein Kind, während ihr Kerle davon quasselt, daß ihr einen Angriff gegen eine körperlich überlegene Gruppe von Aliens machen wollt, die uns noch dazu zahlenmäßig um ungefähr das Zehnfache übertreffen. Wir können nicht gegen sie kämpfen!«
»Wir müssen aber.«
»Nein! Nein!«
»Das ganze Gerede ist doch Unsinn, das mit Kämpfen und so. Die bluffen doch bloß«, sagte Lis Nikiaus. »Die werden uns schon nicht wirklich rausschmeißen.«
»O doch, das werden sie…«
»Nicht, wenn Nid sich darum kümmert!«
»Es war aber grad dein teurer Nid, der uns überhaupt erst in diese Lage gebracht hat!« kreischte Marya Hain.
»Und er wird uns da auch wieder rausholen. Im Moment sind die Gillies eben aufgebracht, aber sie werden…«
»Was hältst du davon, Doc?« rief jemand laut.
Lawler hatte sich während der Debatte still verhalten und abgewartet, bis die Gefühlsüberschwänge sich etwas erschöpft hatten. Es war immer ein Fehler, wenn man bei derartigen Sachen zu früh in den Ring stieg.
Jetzt stand er auf. Und plötzlich wurde es sehr still. Aller Augen waren auf ihn gerichtet. Sie erwarteten von ihm ›die Lösung‹. Ein Wunder, irgendeine Hoffnung oder die Aussicht auf eine Gnadenfrist. Sie rechneten damit, daß er sie ihnen geben werde. Er, eine Stütze der Gemeinde, Sprößling eines berühmten Gründervaters, der getreue verläßliche Inseldoktor, der den Körper eines jeden besser kannte als der selbst, der kluge kühle Denker, der hochgeschätzte Erteiler scharfsinnigen Rats…
Er blickte sie alle an, von einem zur anderen, ehe er zu sprechen begann.
»Damis, Nicko, Nimber, es tut mir leid. Aber ich glaube, das ganze Gerede von Widerstand führt uns zu keiner brauchbaren Entscheidung. Wir müssen uns damit abfinden, daß dies keine gangbare Alternative ist.« Aus der Ecke der Kriegspartei kam sofort ein Murren. Er brachte es mit einem kalten starren Blick zum Schweigen. »Ein Kampf gegen die Gillies, das wäre, als wollte man versuchen, die See leerzutrinken. Wir haben keine Waffen. Uns stehen bestenfalls vielleicht vierzig körperlich taugliche Kämpfer zur Verfügung — gegen Hunderte von ihnen. Die Idee ist es nicht einmal wert, daß man darüber nachdenkt.« Die Stille wurde eisig. Er merkte aber, wie seine ruhigen Worte zu wirken begannen: Blicke wurden getauscht, Köpfe begannen zu nicken. Er wandte sich direkt an Lis Nikiaus: »Lis, die Gillies bluffen nicht, und Nid hat keine Chance, sie umzustimmen. Sie werden ihren Ausweisungsbefehl nicht widerrufen. Nid hat mit ihnen geredet, und ich selber ebenfalls. Und du weißt das. Und wenn einer von euch glaubt, die Gillies ändern ihre Meinung, dann ist er ein Traumtänzer.«
Wie ernst, wie düster sie auf einmal alle aussahen! Die Sweyners, Dag Tharp, ein Grüppchen Thalheims, die Sawtelles. Sidero Volkin mit seiner Frau Elka. Dann Handers, Martin Yanez. Der junge Jose Yanez. Lis. Leo Martello. Pilya Braun. Leynila Stayvol. Sundira Thane. Er kannte sie alle so gut, alle, bis auf wenige Ausnahmen. Sie waren seine Familie, ganz wie er in der versoffenen Nacht zu Delagard gesagt hatte. Ja, ja, es stimmte wirklich. Alle auf dieser Insel.
»Freunde«, sagte er, »wir sehen besser den Tatsachen ins Auge. Mir gefällt das Ganze ebensowenig wie euch, aber uns bleibt nichts anderes übrig. Die Gillies fordern uns auf zu verschwinden? Dann müssen wir eben. Es ist ihre Insel. Sie sind in der Überzahl, und sie haben die materielle Gewalt. Und wir, wir werden uns daran gewöhnen, bald irgendwo anders zu leben, und damit hat sich’s. Ich wollte, ich könnte euch irgendwas Erfreulicheres anbieten, aber das kann ich nicht. Niemand kann das. Keiner!«
Er machte sich auf ein paar heftige Einsprüche von Thalheim oder Tanamind oder Damis Sawtelle gefaßt. Doch die hatten auf einmal nichts weiter zu sagen. Und es gab schließlich auch nichts, was jemand hätte dagegen sagen können. Das ganze Getöse von bewaffnetem Widerstand war nichts weiter gewesen als ein Pfeifen gegen den Wind. Die Versammlung endete ohne Beschlußfassung. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als sich zu fügen. Alle hatten es jetzt erkannt.
Lawler stand an der Kaimauer zwischen Delagards Werft und dem Kraftwerk der Gillies; es war ein Spätnachmittag in der zweiten Woche nach dem Ultimatum, und er blickte auf die sich verändernden Farben in der Bucht hinaus, als drunten Sundira Thane vorbeigeschwommen kam. Zwischen zwei Schlägen hob sie kurz den Kopf und nickte Lawler zu. Er grüßte zurück und winkte. Ihre langen schlanken Beine blitzten in einem Scherenschlag kurz auf, und sie schoß vorwärts, während sich ihr Oberkörper aus dem Wasser hob, um dann plötzlich und rasch in einem Bogen unterzutauchen. Den Bruchteil einer Sekunde lang sah Lawler Sundiras weiße knabenhafte Pobacken über dem Wasser blitzen, dann zog sie rasch dicht unter der Oberfläche dahin, ein schlanker brauner, nackter Wassergeist, der in steten kraftvollen Zügen von der Küste fortschwamm. Lawler folgte ihr mit den Augen, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Sie schwimmt wie ein Gillie, dachte er. Sie war seiner Schätzung nach drei, vier Minuten lang nicht zum Atemholen aufgetaucht. Brauchte sie denn gar nicht zu atmen?
Mireyl war ebenfalls eine so gute Schwimmerin gewesen.
Er verzog das Gesicht. Es bestürzte ihn, daß die Erinnerung an seine lang entschwundene eheliche Partnerin auf einmal so plötzlich und derart ungerufen aus der Vergangenheit auftauchen konnte. Er hatte ewig nicht mehr an Mireyl gedacht. Dann aber fiel ihm ein, daß er doch gerade erst in der vergangenen Nacht, als er so besoffen umhergewandert war, an sie gedacht hatte. Mireyl, ach ja… eine alte Geschichte.
Er konnte sie beinahe leibhaftig sehen. Auf einmal war er wieder dreiundzwanzig, der junge neue Inselarzt, und da war sie, mit hellem Haar und heller Haut und straffem Körper, breit in den Schultern und im Becken, tiefliegendes Gravitationszentrum, ein kräftiges kleines Geschoß von Weib, rund, muskulös und untersetzt. Ihr Gesicht wurde ihm nicht deutlich. Irgendwie vermochte er sich an das Gesicht überhaupt nicht mehr zu erinnern.