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Wie benommen taumelte Lawler auf die Reling zu, irgendwie von einem verschwommenen Impuls getrieben, daß er über Bord springen und Struvin retten müsse. Kinverson schien zu begreifen, was in ihm vorging. Er griff mit einem langen Arm nach ihm, packte ihn an der Schulter und zerrte ihn zurück.

»Sei nicht verrückt«, sagte er. »Da drunten schwimmt gottweißwas rum und wartet auf dich.«

Lawler nickte verwirrt. Er trat von der Reling zurück und stierte seine brennenden Finger an. Auf der Haut zeichnete sich ein hellrotes Netz von Linien ab. Der Schmerz war unglaublich heftig. Er hatte das Gefühl, als müßten seine Hände zerplatzen.

Der ganze Vorfall hatte vielleicht anderthalb Minuten gedauert.

Nun kam Delagard aus dem Decksluk gestürzt und rannte verärgert und bestürzt zu ihnen her.

»Was, zum Teufel, ist hier los? Was soll dieses Geschrei und Gebrüll?« Er brach ab und gaffte mit offenem Mund in die Gegend. »Wo ist Gospo?«

Lawlers Atem ging schwer, seine Kehle brannte, sein Herz hämmerte, er konnte kaum sprechen. Mit einer Kopfbewegung wies er zur Reling.

»Über Bord gegangen?« sagte Delagard ungläubig. »Er ist in die See gefallen?«

Er stürzte an die Bordwand und blickte hinaus. Lawler trat neben ihn. Dort unten war jetzt alles still. Die Massen wimmelnder wabbeliger Quallen waren verschwunden. Die See war dunkel, glatt und stumm. Nirgends war etwas von Struvin oder dem Netzding zu sehen, das ihn sich geholt hatte.

»Er ist nicht gestürzt«, erklärte Kinverson. »Er wurde reingezogen. Die andere Hälfte von dem Zeug da hat ihn erwischt.« Er zeigte auf die Bruchstücke und zerfetzten Reste des Netzes, die er zertrümmert hatte. Diese waren nun nichts weiter als ein grünlicher verschmierter Fleck auf dem gelben Holz der Decksplanken.

Mit heiserer Stimme sagte Lawler: »Es hat genau wie ein altes Fischnetz ausgesehen und lag da ganz durcheinander in einem Haufen auf dem Deck. Vielleicht haben’s diese Quallen raufgeschickt, damit es für sie Beute fängt. Struvin hat es mit dem Fuß angestoßen, und das Zeug hat ihn am Bein gepackt und…«

»Was? Was für einen Quatsch erzählst du mir da?« Delagard blickte wieder über Bord, dann auf Lawlers Hände und danach auf den verschmierten Fleck auf den Planken. »Meinst du das im Ernst? Etwas, das aussieht wie ein Fischnetz kam aus dem Meer an Bord und hat sich Gospo geholt?«

Lawler nickte.

»Das gibt’s nicht. Irgendwer muß ihn rübergestoßen haben! Wer war es? Du, Lawler? Kinverson?« Delagard blinzelte mit den Augendeckeln, als wäre auch ihm klar, wie unwahrscheinlich das eben Gesagte sei. Dann blickte er Lawler und Kinverson fest an und sagte: »Ein Netz? Ein lebendes Netz ist aus der See rauf gekrochen und hat sich Gospo geschnappt?«

Wieder nickte Lawler fast unmerklich mit dem Kopf. Langsam spreizte er die Hände und schloß sie wieder. Das Stechen ließ sehr langsam nach, aber er wußte, er würde es noch stundenlang fühlen. Er war am ganzen Leib wie betäubt, war benommen und durcheinander. Die ganze alptraumhafte Szene rollte in seinem Kopf wieder und wieder ab: Struvin bemerkt das Netz, stößt mit dem Fuß dagegen, verfängt sich darin, das Netz beginnt über die Reling zu fließen und zerrt Struvin mit…

»Nein«, murmelte Delagard. »Himmel, verdammt noch mal, ich kann es nicht glauben.« Kopfschüttelnd spähte er in die ruhige See hinab. Dann schrie er: »Gospo! Gospo!« Aus der Tiefe kam keine Antwort. »Verdammter Mist! Fünf Tage auf See, und schon einen Mann verloren? Das darf doch nicht wahr sein!« Er kehrte der Reling den Rücken zu, genau in dem Moment, da die restliche Schiffsbesatzung an Deck erschien: Leo Martello voran, dann Father Quillan und Onyos Felk, und dicht hinter ihnen die übrigen. Delagard kniff die Lippen zusammen, seine Wangen blähten sich. Das Gesicht war vor Bestürzung und Wut und Schock blutrot geworden. Das Ausmaß von Delagards Bekümmerung überraschte Lawler. Struvin war auf scheußliche Weise gestorben, aber schließlich gab es ja nicht viele angenehme Sterbearten. Und er hätte auch nie vermutet, daß Delagard sich einen feuchten Furz um irgendwas oder irgend jemanden kümmerte, außer um sich selber.

Der Reeder wandte sich zu Kinverson und fragte: »Hast du je von so was gehört?«

»Noch nie. Niemals nicht.«

»Ein Ding, das aussieht wie ein ganz gewöhnliches Netz«, wiederholte Delagard. »Ein vergammeltes altes Netz, das dich plötzlich anspringt und packt… Himmel, was ist das für eine Gegend! Was für eine verfluchte Gegend!« Und er schüttelte unablässig weiter den Kopf, als könnte er Struvin wieder aus der See herausschütteln, wenn er es nur lang und heftig genug durchhielt mit dem Kopfgewackle.

Dann wuchtete er sich herum und sprach zu dem Priester: »Father Quillan! Sagt uns ein Gebet auf, ja?«

Der Geistliche schaute betroffen drein. »Wie? Was?«

»Habt Ihr mich nicht gehört? Wir haben einen Mann verloren. Struvin ist fort. Irgendwas ist an Bord gekrochen und hat ihn ins Meer gezerrt.«

Der Pater blieb stumm. Er reckte die geöffneten Hände vor, als wollte er bedeuten, daß Sachen, die aus dem Ozean heraufgekrochen kommen, außerhalb seiner ekklesiastischen Kompetenz und Verantwortlichkeit lägen.

»Mein Gott, so sagt doch ein paar Worte! Sagt irgendwas!«

Father Quillan zögerte noch immer. Aus dem hinteren Bereich der Gruppe kam stockend eine flüsternde Stimme: »Unser Vater im Himmel — geheiligt sei DEIN Name…«

»Nein!« unterbrach der Priester. Es klang, als erwachte er soeben langsam aus einem Schlaf. »Nicht das!« Dann befeuchtete er sich mit der Zungenspitze die Lippen und begann sehr stockend und verlegen: »Wahrlich, auch wenn ich durch das Schattental des Todes wandere, will ich kein Unheil fürchten, denn DU bist bei mir.« Father Quillan zögerte, befeuchtete sich erneut die Lippen und suchte offensichtlich nach weiteren frommen Worten. »DU hast mir ein Festmahl bereitet im Angesichte meiner Feinde… Und so sollen mich gewißlich Güte und Barmherzigkeit begleiten an allen Tagen meines Lebens…«

Pilya Braun trat zu Lawler, ergriff ihn an den Ellenbogen und drehte seine Handflächen nach oben, so daß sie die Feuermale sehen konnte. »Komm mit«, sagte sie leise. »Gehn wir runter, und du zeigst mir, welche Salbe ich dir da drauftun muß.«

* * *

In der kleinen Kabine voller Pülverchen und Tränklein sagte Lawler mit einer Kopfbewegung: »Das da drüben. Das Fläschchen dort.«

»Dies?« Pilya blickte ihn argwöhnisch an. »Das ist aber keine Salbe.«

»Das weiß ich. Träufle ein paar Tropfen in ein wenig Wasser und gib mir das zuerst. Danach die Salbe.«

»Was ist es denn? Ein Schmerzmittel?«

»Ja, ein Schmerzmittel.«

Pilya machte sich geschäftig daran, ihm die Droge zu mischen. Pilya war um die fünfundzwanzig, hatte goldene Haare, braune Augen, breite Schultern, kräftige Gesichtszüge, eine gutgeformte Brust und schimmernde olivdunkle Haut — eine attraktive kräftige Frau und — wie Delagard sagte — eine hart zupackende Arbeiterin. Und zweifellos kannte sie sich auf Schiffen aus. In Sorve hatte Lawler nie viel mit ihr zu tun gehabt; aber vor zwanzig Jahren hatte er ein paarmal mit ihrer Mutter, Anya, das Bett geteilt, als er ungefähr so alt war, wie Pilya es jetzt war, und ihre Mutter damals eine schlanke Mittdreißigerin. Es war eine ziemlich dumme Geschichte gewesen, damals. Lawler bezweifelte, daß Pilya davon etwas wußte. Ihre Mutter war inzwischen tot, dahingerafft von einem Fieber nach dem Genuß von verdorbenen Austern, das war vor drei Wintern gewesen. Damals, als er das Verhältnis mit Anya hatte, war Lawler ziemlich heftig hinter den Weibern hergewesen — es war kurz nach dem Zusammenbruch seines einzigen Eheversuchs, der unter einem üblen Stern gestanden hatte. Aber seither hatte er sich schon ziemlich lange die Frauen vom Leibe gehalten, und in diesem Moment wünschte er sich, daß Pilya aufhören möge, ihn dermaßen bereitwillig und hoffnungsschwanger anzuglotzen, als wäre er die Erfüllung all dessen, was sie sich von einem Mann erwartete. Das war er nämlich nicht. Doch er war zu wohlerzogen — oder auch zu desinteressiert, um ihr das klarzumachen. Er wußte selber nicht, was von beidem zutraf.