Eine wundervolle Schwimmerin, das war sie. Im Wasser bewegte sie sich wie ein Speer. Sie schien nie müde zu werden und konnte endlos lang unter Wasser bleiben. So kräftig und aktiv er selber war, es fiel ihm doch stets schwer, mit ihr mitzuhalten, wenn sie schwammen. Meist kehrte sie um und wartete dann lachend auf ihn, und er holte sie ein, packte sie und drückte sie fest an sich.
Jetzt schwammen sie gerade. Er kam auf sie zu, und sie breitete ihm die Arme entgegen. Ringsum schwammen kleine Glitzerdinger, geschmeidig und freundlich.
»Wir sollten heiraten«, sagte er.
»Sollen wir das?«
»Ja, das sollen wir.«
»Die Frau des Arztes… Ich hab nie dran gedacht, den Doktor zu heiraten.« Sie lachte. »Aber irgendwer muß es ja wohl tun.«
»Nein. Keine muß es tun. Aber bei dir möchte ich es gern.«
Sie schlüpfte von ihm fort und schwamm weiter. »Fang mich, dann nehm ich dich!«
»Das ist unfair. Du hast ’ne halbe Länge Vorsprung.«
»Nichts ist je fair«, rief sie ihm zu.
Er grinste und machte sich an die Verfolgung. Er schwamm schneller als jemals zuvor, und diesmal zog er mit ihr gleich, als sie etwa auf halber Strecke in der Bucht waren. Er hätte nicht sagen können, ob er sein Leistungsvermögen über das übliche Maß steigerte, oder ob sie sich absichtlich von ihm einholen ließ. Vielleicht traf beides zu.
Und dann hatte der Doktor ein eheliches Weib.
»Bist du glücklich?« fragte er oft.
»O ja. Ja.«
»Ich auch.«
Eine gute, feste Ehe. Glaubte er jedenfalls. Aber sie war ruhelos. Ursprünglich war sie von einer anderen Insel gekommen, und nun wollte sie weiterziehen und ›die Welt kennenlernen‹ aber er war an Sorve gefesselt: durch seine Arbeit, durch seine disziplinierte, angeborene Gelassenheit, durch unzählige unsichtbare Bindungen. Er begriff nicht, wie stark der Drang zur Vagabondage in ihr wirklich war; ihre Sehnsucht nach fremden Inseln hatte er für eine blaße Übergangsphase gehalten, aus der sie herauswachsen würde, wenn sie sich erst einmal an das eheliche Dasein mit ihm auf Sorve gewöhnt hatte.
Und nun, eine andere Szene. Drunten im Hafen, elf Monate nach der Hochzeit. Mireyl, die an Bord einer von Delagards Inter-Insular-Fähren steigt, Zielhafen Morvendir, und die kurz stehenbleibt, auf die Pier zurückblickt und ihm zuwinkt. Ohne zu lächeln. Auch er lächelte wohl kaum, als er linkisch zurückwinkte. Und dann kehrte sie ihm den Rücken und war fort.
Lawler hatte danach nie wieder etwas von ihr oder über sie gehört. Das war nun zwanzig Jahre her. Hoffentlich ging es ihr gut, wo immer sie sein mochte.
In weiter ferne sah Lawler Schwärme von Luftgleitlingen die Wasserfläche durchstoßen und sich zu ihrem wilden Luftflug mit gespreizten Finnen emporschleudern. Ihre Schuppen blitzten rot und golden, genau wie die Edelsteine in den Geschichtenbüchern seiner Kindheit. Er hatte noch nie echte Edelsteine gesehen — auf Hydros gab es so etwas nicht —, doch es war schwer verstellbar, daß sie schöner sein sollten als diese Luftgleitlinge im Flug durch die untergehende Sonne. Und er vermochte sich auch keine schönere Szenerie auszumalen als die Bucht von Sorve in ihrer Abendfärbung. Was für ein prachtvoller Sommerabend! Es gab andere Zeiten im Jahr, da war die Luft nicht dermaßen weich und mild — wenn die Insel in Polargewässern driftete, wenn schwarze Stürme und messerscharfer Hagel auf sie niederpeitschten. Zeiten, in denen die Witterung zu rauh war und keiner mehr sich bis zum Rand der Bucht wagen konnte, um Fische oder Pflanzen zu holen, Zeiten, in denen sie alle von Trockenfisch und Algenpulver lebten, von getrockneten Tangsträhnen, wo sich alle in den Vaarghs verkrochen und unglücklich darauf warteten, daß die Sommerzeit wiederkäme. Aber die Sommer! Ach, diese Sommer, in denen die Insel durch tropische Breiten schwamm! Nichts konnte wundervoller sein! Die Ausweisung im Mittsommer machte die Vertreibung von der Insel nur um so schmerzhafter spürbar… man entzog ihnen die schönste Zeit des ganzen Jahres.
Aber das war schließlich die Geschichte der Menschheit von Anfang an, nicht wahr? dachte er. Ein Rausschmiß nach dem anderen. Vom Paradiesgarten Eden an ein Exil nach dem anderen.
Und wie er da so über die Bucht in all ihrer Schönheit blickte, verspürte er scharf ein erneutes Verlustgefühclass="underline" Sekunde um Sekunde stürzte sein Leben auf Sorve unwiederbringlich von ihm fort. Zwar fühlte er gleichzeitig auch noch diese seltsame Erregung bei der Vorstellung vom Beginn eines neuen Lebens an anderem Ort, wie in der ersten Nacht, aber doch nicht unablässig.
Er dachte über Sundira nach. Wie es sein mochte, mit ihr zu schlafen. Es wäre absurd, sich nicht einzugestehen, daß er sich von ihr angezogen fühlte. Diese langen glatten Beine, der schlanke geschmeidige Athletenkörper. Ihre Energie, die knappe, selbstbewußte Art. Er stellte sich vor, daß er mit den Fingern über die kühle glatte Haut an der Innenseite ihrer Schenkel streichle. Daß er den Kopf in die Grube zwischen Schulter und Hals bette. Die kleinen festen Brüste unter seinen Händen, die kleinen Brustwarzen, die sich gegen seine Handflächen aufrichteten. Wenn Sundira sich der Liebe nur halb so energisch widmete wie dem Schwimmen, dann mußte sie sensationell sein.
Seltsam, dieses Verlangen nach einer Frau, auf einmal wieder. Er hatte nun so lange schon autonom und selbstgenügsam gelebt. Wenn er jetzt diesem Verlangen nachgab, bedeutete dies, daß er ein Stück seiner sorgsam aufgebauten Schutzpanzerung preisgeben müsse. Doch der Abschied von der Insel hatte alles mögliche ans Licht gespült, was in seiner Seele bisher ruhig geschlummert hatte.
Nach einer Weile merkte Lawler, daß mindestens zehn Minuten verstrichen sein mußten, vielleicht sogar mehr, und er hatte Sundira nicht ein einziges Mal auftauchen und Luft holen sehen. So etwas schaffte nicht einmal eine sehr starke Schwimmerin, jedenfalls keine menschliche. In plötzlicher Angst suchte er die Wasserfläche nach ihr ab.
Dann sah er sie auf dem Deichweg von links her auf ihn zukommen. Die dunklen feuchten Haare waren straff im Nacken zusammengerafft, und sie trug ein loses blaues Wickelkleid aus Kriechtang, das vorn offenstand. Sie mußte nach Süden geschwommen und direkt neben der Bootswerft über die Rampe an Land gestiegen sein, ohne daß er es bemerkt hatte.
»Was dagegen, wenn ich mich dir anschließe?« fragte sie.
Lawler machte eine einladende Handbewegung. »Hier ist genug Platz.«
Sie trat an seine Seite und lehnte sich wie er mit den Ellbogen auf die Brüstung gestützt nach vorn und blickte aufs Wasser hinaus.
»Du hast so ernst dreingesehen, vorhin, als ich vorbeigeschwommen bin. So tief in Gedanken.«
»Wirklich?«
»Warst du?«
»Ich nehm es an.«
»Über große Dinge nachdenkend, Doktor?«
»Ach, eigentlich nicht. Ich hab bloß so gedacht.« Er war nicht so recht bereit, ihr zu eröffnen, was ihm vorhin durch den Kopf gegangen war. »Ich hab versucht, mich mit dem Gedanken abzufinden, daß ich hier fort muß«, improvisierte er rasch. »Wie der ins Exil gehen zu müssen.«
»Wieder?« fragte sie. »Das versteh ich nicht. Was soll das heißen: wieder? Mußtest du früher schon einmal von einer Insel fort? Ich dachte, du lebst schon immer auf Sorve.«
»Das stimmt. Aber das diesmal ist für uns insgesamt das zweite Exil, nicht wahr? Erst wurden unsere Vorfahren von der ERDE vertrieben. Und nun wir von unserer Insel.«
Sie wandte sich ihm zu und schaute ihn verwirrt an. »Wir sind keine Exilanten der ERDE. Kein ERDEgeborener hat sich je auf Hydros niedergelassen. Die ERDE wurde hundert Jahre vor der Ankunft der ersten Menschen hier schon zerstört.«