»Das spielt keine Rolle. Wir kommen alle ursprünglich von der ERDE, wenn du bis zum Anfang zurückgehst. Und wir haben sie verloren. Das ist wie ein Exil. Ich meine, für uns alle, für jeden einzelnen Menschen, für alle, auf welcher Welt im Raum sie auch leben.« Und auf einmal sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. »Schau, wir hatten einst eine Mutter-Welt, einen gemeinsamen Ursprungsplaneten, und er ist dahin, zerstört und vernichtet. Ausgelöscht. Nichts ist mehr übrig als die Erinnerung… und eine ziemlich verschwommene überdies… nichts, nur ein paar Händevoll kleinster Trümmerstücke wie jene, die du in meinem Vaargh gesehen hast. Mein Vater erzählte uns gern, daß die ERDE ein Ort voll bestürzend-schöner Wunder gewesen ist, der schönste Planet, der jemals existierte. Eine Welt der Gärten, pflegte er zu sagen. Ein Paradies. Vielleicht war sie das ja. Es gibt Leute, die behaupten, daß sie ganz und gar nicht so war, sondern ein abscheulicher Ort, ein Jammertal, aus dem die Menschen flohen, weil sie das Elend nicht mehr ertragen konnten. Ich weiß es nicht. Das alles ist inzwischen zur Mythologie verkommen. Aber ganz gleich, wie sie war, sie war unsere Heimat, und wir haben sie verlassen, und danach war die Tür ein für allemal hinter uns zugefallen.«
»Ich denke niemals an die ERDE«, sagte Sundira.
»Ich schon. Alle übrigen galaktischen Rassen haben noch ihre Mutterwelt. Wir nicht! Wir müssen in der Diaspora leben, über Hunderte von Welten verstreut, fünfhundert von uns hier, tausend anderwärts, wir müssen uns in der Fremde ansiedeln. Und werden mehr oder weniger von den nicht-irdischen verschiedenen Geschöpfen toleriert, auf deren Planeten es uns leidlich gelang, Fuß zu fassen. Das meine ich mit Exil!«
»Aber selbst wenn es die ERDE noch gäbe, wir könnten ja gar nicht auf sie zurückkehren. Nicht von hier, von Hydros aus. Hydros ist unsere Heimat, nicht die ERDE. Und niemand vertreibt uns von Hydros ins Exil.«
»Immerhin, wir werden von Sorve vertrieben. Das kannst du schlecht wegdiskutieren.«
Ihr Gesichtsausdruck, der merkwürdig, spöttisch und ein wenig ungeduldig, geworden war, wurde wieder weicher. »Dir kommt es wie das Exil vor, weil du nie irgendwo anders gelebt hast. Für mich ist eine Insel nichts weiter als eine Insel. Sie sind alle mehr oder weniger gleich. Wirklich. Ich lebe eine Weile auf der einen, und dann bekomme ich das Gefühl, jetzt möchte ich weiterziehen, und dann gehe ich eben woanders hin.« Sundira ließ ihre Hand flüchtig auf seiner ruhen. »Ich weiß, für dich ist das anders. Tut mir leid.«
Lawler entdeckte, daß er verzweifelt gern zu einem anderen Thema wechseln wollte.
Die Sache stimmte ganz und gar nicht. Jetzt hatte er ihr Mitgefühl erregt, und das bedeutete, sie reagierte auf etwas an ihm, was sie als sein Selbstmitleid interpretieren mußte. Das Gespräch hatte auf dem falschen Fuß begonnen und humpelte nun so weiter. Anstatt über die Vertreibung ins Exil und über die schwere Bürde der armen heimatlosen Menschenkinder zu jammern, die wie Sandkörner in der Galaxis verstreut lebten, hätte er Sundira besser sagen sollen, wie hinreißend sie auf ihn gewirkt hatte, als sie ihren hübschen Sterz beim Tauchen in die Höhe gereckt hatte, und ob sie nicht Lust habe, jetzt gleich mit ihm zu seinem Vaargh raufzugehen und vor dem Abendessen noch eine fröhliche kleine Vögelei mit ihm zu veranstalten? Aber es war zu spät, um jetzt noch auf diesen Kurs umzusteigen. Oder doch nicht?
Nach einer Weile fragte er: »Was macht der Husten?«
»Dem geht’s gut. Aber ich könnte ein bißchen mehr von der Medizin brauchen. Ich hab nur noch für zwei Tage.«
»Wenn du nichts mehr hast, komm zum Vaargh rauf. Ich geb dir dann Nachschub.«
»Mach ich«, sagte sie. »Und ich würde mir auch gern deine Sachen von der ERDE genauer ansehen.«
»Wenn du das willst, gern. Wenn sie dich interessieren, sag ich dir, was ich darüber weiß. Viel ist es nicht. Allerdings verlieren die meisten Leute rasch das Interesse, wenn ich davon anfange.«
»Mir war nicht klar, daß dich ERDE dermaßen fasziniert. Ich bin noch nie einem begegnet, der sich darüber viel Gedanken gemacht hätte. Für die meisten von uns ist sie halt nur der Ort, an dem vor ewig langer Zeit mal unsere Vorfahren gelebt haben. Aber das übersteigt unser Begriffsvermögen, ehrlich. Das können wir nicht erfassen. Und wir denken darüber ebensowenig nach wie darüber, wie unsere Ur-Ur-Ur- Ur-Urgroßeltern vielleicht einmal aussahen.«
»Aber ich tu es«, antwortete Lawler. »Ich könnte dir aber nicht sagen, warum. Ich denke an alle möglichen Sachen, die sich meinem Begriffsvermögen entziehen. Beispielsweise wie das sein mag, auf einer Welt mit festem Land zu leben. Wo deine Füße auf festen schwarzen Boden treten, aus dem Pflanzen wachsen, einfach so in der freien Luft, Pflanzen, die zwanzigmal so groß sind wie ein Mensch.«
»Du meinst — Bäume?«
»Ja, Bäume.«
»Ich weiß von Bäumen. Was für wundersame Dinge sie sind. Mit Stengeln, so dick, daß du sie mit den Armen nicht umfassen kannst. Und von oben bis unten von fester, rauher brauner Haut bedeckt. Unglaublich!«
»Du sprichst, als hättest du schon mal welche gesehen.«
»Ich? Aber nein, wie sollte ich? Ich bin eine Hydrosgeborene, wie du. Aber ich habe Leute getroffen, die auf Festlandwelten gelebt hatten. Während meiner Zeit auf Simbalimak war ich ziemlich viel mit einem Mann von Sunrise zusammen, und der erzählte mir von Wäldern und von Vögeln… und von Bergen und all den anderen Dingen, die wir hier nicht haben. Bäume. Insekten. Wüsten. Das alles kam mir recht erstaunlich vor.«
»Das kann ich mir denken«, sagte Lawler. Aber das Gespräch jetzt machte ihn auch nicht fröhlicher als die vorherige Unterhaltung. Er wollte nichts von Wäldern, Vögeln und Bergen hören — und nichts über den Mann von Sunrise, mit dem sie auf Simbalimak so oft zusammen war.
Sie blickte ihn seltsam an. Es gab eine lange zähe Pause. Eine Pause, in der unterschwellig etwas ausgesagt wurde. Aber, verdammt, er begriff den Text nicht.
Dann, mit verändertem, brüskem Ton sagte sie: »Du bist nie verheiratet gewesen, Doktor?« Die Frage kam so überraschend, wie wenn ein Gillie auf einmal Flickflack turnte.
»Doch. Einmal. Aber nicht lange. Es ist schon ziemlich lange her. Ein schlimmer Irrtum. Und du?«
»Nie. Vermutlich weiß ich nicht, wie man so was anstellt. Sich auf ewig an eine einzige Person zu binden. Mir kommt so was dermaßen komisch vor.«
»Man behauptet, daß es möglich ist«, bemerkte Lawler. »Und ich hab es auch mit eigenen Augen erlebt. Aber natürlich hab ich nur sehr wenig persönliche Erfahrung damit.«
Sie nickte unbeeindruckt. Irgendwie schien sie sich mit einem Problem herumzuschlagen. Genau wie er selbst. Und sein Problem kannte er: sein Zaudern, die von ihm selbst errichteten Grenzen zu überschreiten, hinter denen er sein Leben verschanzt hatte, nachdem Mireyl ihn verlassen hatte; seine Weigerung, sich dem Risiko erneuter schmerzlicher Verletzung auszusetzen.
Inzwischen war er sein diszipliniertes zölibatäres Leben gewohnt geworden. Mehr als nur angepaßt eigentlich: Ihm erschien es als das, was er haben wollte, weil es seinen tiefsten Bedürfnissen entsprach. Nichts gewagt und nichts — verloren. Wartete die Frau da darauf, daß er den ersten Zug machte? Allem Anschein nach, ja. Aber würde er ihn machen? Konnte er? Er hatte sich doch selbst in der Falle seiner unbiegsamen Gleichmütigkeit gefangen, und irgendwie sah er keine Möglichkeit, wie er sich mit Anstand aus ihr davonstehlen könnte.
Der leichte Sommerwind aus dem Süden trug ihm den Geruch ihrer seefeuchten Haare zu und ließ ihr Umhängetuch flattern, was Lawler deutlich daran gemahnte, daß Sundira darunter nackt war. Der rötlichgelbe Schein der sinkenden Sonne auf ihrer nackten Haut verwandelte die feinen zarten, fast unsichtbaren Härchen darauf in Gold, das auf ihren Brüsten funkelte. Ihr Körper war noch feucht vom Schwimmen, die kleinen helleren Brustwarzen hatten sich in der Abendkühle aufgerichtet. Sie war geschmeidig und fest und verlockend.