Und er begehrte sie.
Also gut. Dann zimpre nicht so herum. Du bist schließlich keine fünfzehn mehr. Was du jetzt machst, du sagst ihr: »Anstatt auf den Morgen zu warten, komm doch gleich mit mir in meinen Vaargh, dann geb ich dir die Medizin. Und dann laß uns zusammen essen und ein paar Gläschen trinken. Ich würde dich wirklich gern besser kennenlernen.« Und dann die Sache nach Gefühl weiterspielen. Er hörte die Worte in der Luft, fast so, als hätte er sie bereits ausgesprochen.
Doch in eben diesem Moment kam Gabe Kinverson direkt von seiner Tagesarbeit auf See über den Pfad daher. Er trug noch seine Fangausrüstung, schwere zeltähnliche Schutzkleidung, die ihn vor den scharfen Hieben der Fleischfischtentakeln bewahren sollte. Unter einem Arm trug er ein gefaltetes Segel. Er machte halt und stand riesenhaft eine Weile ein Dutzend Meter entfernt da, eine klobige Gestalt, gespenstisch wie ein scharfkantiges Riff, und von ihm strahlte wie immer diese merkwürdige Aura einer großen Kraft aus, von versteckter Gewalt, von Gefährlichkeit, die nur mit äußerster Schwierigkeit unter Kontrolle gehalten werden konnte.
»Da bist du ja«, sagte er zu Sundira. »Hab dich schon gesucht, ’n Abend, Doc.« Seine Stimme klang ruhig, ausdruckslos, rätselhaft. Aber Kinverson klang auch nie so bedrohlich, wie er aussah. Er nickte Sundira zu, und sie kam ohne Zögern zu ihm.
»War nett, mal mit dir zu reden, Doktor«, sagte sie über die Schulter zu Lawler.
»Aber gewiß.«
Kinverson will ja bloß, daß sie ihm das Segel flickt, beruhigte Lawler sich selber.
Na sicher, was sonst.
Wieder hatte er einen seiner ERDEN-Träume. Eigentlich waren es zwei, der eine sehr schmerzlich, der andere war nicht so übel. Lawler wurde mindestens einmal im Monat von einem heimgesucht, manchmal auch von beiden.
Diesmal war es der gemütlichere Traum, und er wanderte tatsächlich eigenfüßig und auf festem Boden über die ERDE. Er trug keine Schuhe, und es hatte vor kurzem geregnet, und der Boden war weich und warm, und wenn er die Zehen spreizte und sie in die Erde grub, sah er den feuchten Boden wie Ranken zwischen ihnen heraufsprießen, ähnlic h wie es beim Sand war, wenn er im seichten Teil der Bucht umherstakte. Der Boden der ERDE aber war ein dunkleres Material als Sand und viel schwerer. Und er gab unter dem Tritt in sehr unvertrauter Weise nach, nur ganz wenig.
Er ging durch einen Wald. Überall um ihn herum waren Bäume, Gewächse wie Holzkelp-Pflanzen mit langen Stämmen und dichten Laubkronen weit droben, aber viel, viel massiver als irgendein Holzkelp, den er je gesehen hatte, und das Laub stand so weit über ihm, daß er die Gestalt der Blätter nicht erkennen konnte. In den Wipfeln flatterten Vögel umher. Sie produzierten seltsame melodische Laute, eine Musik, die er nie zuvor gehört hatte und an die er sich nach dem Erwachen nie erinnern konnte. Allerart fremdartiger Geschöpfe strichen durch den Wald, manche gingen auf zwei Beinen wie ein Mensch, manche krochen auf ihren Bäuchen dahin, und manche standen auf sechs oder acht kleinen Stelzen. Er nickte ihnen im Vorübergehen grüßend zu, und sie erwiderten seinen Gruß, diese irdischen Geschöpfe.
Dann kam er an einen Ort, wo der Wald sich auftat, und er sah vor sich einen Berg aufragen. Er sah aus wie aus dunklem Glas mit Einsprengseln von spiegelhellen Unebenheiten, und in dem warmen goldenen Sonnenlicht war sein Strahlen wunderbar. Er füllte das halbe Firmament aus. Und Bäume wuchsen darauf. Sie wirkten so klein, daß er einen mit der Hand hätte umfassen können, doch er wußte, daß dies nur deshalb so wirkte, weil der Berg so weit von ihm entfernt war, und daß diese Bäume in Wirklichkeit mindestens so hoch waren wie jene in dem Wald, aus dem er gerade gekommen war, vielleicht sogar größer.
Er umwanderte irgendwie den Fuß des Berges. Auf dessen anderer Seite befand sich ein langer, abfallender Einschnitt, ein Tal, und jenseits dieses Tales sah er etwas Dunkles sich breiten, und er wußte, das war eine Stadt; eine Stadt voller Menschen, mehr Menschen, als er sich ohne Mühe vorzustellen vermochte. Er schritt darauf zu, er gedachte sich unter diese irdischen Menschen zu begeben und ihnen zu erklären, wer er sei und von woher er gekommen war, und er wollte sie nach ihrem Leben fragen, und ob sie seinen Ur-Urgroßvater kannten, Harry Lawler, oder vielleicht seinen Vater oder Großvater.
Doch so eifrig er auch gehen mochte, er rückte der Stadt nicht näher. Sie blieb unentwegt drüben am Horizont, dort unten am Ende des Tales. Stundenlang ging er, tagelang, er ging wochenlang… und stets blieb die Stadt unerreichbar, entzog sich ihm beharrlich, und wenn er dann schließlich erwachte, war er erschöpft und verkrampft wie von einer gewaltigen körperlichen Anstrengung und war müde, als hätte er überhaupt keinen Schlaf gefunden.
Am Morgen kam Jose Yanez, sein junger Schüler, wie gewohnt zum Unterricht in den Vaargh. Auf der Insel herrschte ein straffes Ausbildungssystem; man durfte nicht zulassen, daß irgendein Handwerk, irgendeine Kunst ausstarb. Seit den Anfängen der Niederlassung war dies nun das erste Mal, daß der Doktorslehrling kein Lawler war. Aber die Lawler-Tradition würde mit ihm enden, und wenn er einmal nicht mehr war, würde eine andere Familie die Verantwortung übernehmen müssen.
»Werden wir die ganze medizinische Ausrüstung mitnehmen können, wenn wir fortgehen?« fragte Jose.
»Soweit Platz an Bord ist«, beschied ihn Lawler. »Die Instrumente, die meisten Drogen, das Buch der Rezepturen.«
»Die Patientenkartei?«
»Falls genug Platz ist. Ich weiß nicht.«
Jose war siebzehn, ein großer schlaksiger Bursche. Sanftmütig, eine Seele von Mensch mit einem offenen, stets zu einem Lächeln bereiten Gesicht, und geschickt im Umgang mit den Patienten. Er schien begabt für die Doktorei. Er genoß die langen Stunden des Lernens, wie Lawler selbst, als Junge eher aufsässig und mit Wespen im Hintern, das nie ertragen hätte können. Es war jetzt das zweite Jahr von Joses Ausbildung, und Lawler vermutete, daß Jose bereits die Hälfte der Grundtechniken beherrschte; den Rest und die diagnostische Geschicklichkeit würde er sich ebenfalls mit der Zeit aneignen. Der Junge stammte aus einer Familie von Seefahrern; der ältere Bruder, Martin, war Kapitän auf einem von Delagards Schiffen. Es paßte genau zu dem Bild von Jose, daß er sich wegen der Krankenblätter der Patienten Sorgen machte. Lawler bezweifelte, daß man sie würde mitnehmen können; auf Delagards Schiffen schien nicht viel Platz für Cargo zu sein, und es gab vordringlichere Prioritäten als die Patientenkartei. Also würden er und Jose eben die Krankengeschichten der Inselbevölkerung unter sich aufteilen und auswendig lernen müssen, ehe der Auszug begann. Aber das würde weiter kein großes Problem sein. Er selbst hatte die meisten Fälle sowieso bereits im Gedächtnis. Und Jose, vermutlich, ebenso.
»Hoffentlich komme ich auf dasselbe Schiff wie du«, sagte der Junge. Neben Bruder Martin war Lawler für Jose sein größtes Heldenidol.
»Nein«, sagte Lawler ernst. »Wir werden auf verschiedenen Schiffen Dienst tun. Falls dann meins Schiffbruch erleiden sollte, dann bist immer noch du da und kannst die ärztliche Betreuung vornehmen.«
Jose schaute drein, als hätte ihn der Blitz getroffen. Weshalb? Wegen der Vorstellung, das Schiff seines Helden könne kentern und Lawler zugrunde fahren? Oder bei dem Gedanken, er selbst werde wirklich eines Tages der Koloniearzt sein? Vielleicht schon sehr bald?
Wahrscheinlich war es das. Lawler erinnerte sich, was für Gefühle ihn überkommen hatten, als er zum erstenmal begriff, daß hinter seiner Lehrzeit ja ein ganz aktueller Zweck, eine gezielte Absicht steckte, hinter diesem zermürbenden, endlosen öden Drilclass="underline" Daß nämlich von ihm eines Tages erwartet wurde, an die Stelle seines Vaters zu treten und alle seine beruflichen Aufgaben zu erfüllen wie er. Er war damals so um die vierzehn gewesen. Und als er zwanzig war, war sein Vater tot, und er selber war der Doktor.