»Hör mal, mach dir deswegen keine großen Gedanken«, sagte Lawler. »Mir wird schon nichts passieren. Aber wir müssen eben mit dem Schlimmsten rechnen, Jose. Du und ich, wir verfügen über das gesamte medizinische Wissen, das es in der Kolonie gibt. Wir haben die Pflicht, es zu bewahren.«
»Ja. Natürlich.«
»Also gut. Das bedeutet, wir werden in verschiedenen Schiffen reisen. Verstehst du, was ich damit meine?«
»Ja. Ja, ich verstehe«, sagte der Junge. »Ich würde zwar lieber bei dir bleiben, aber ich versteh es wirklich.« Er lächelte. »Wir wollten heute über Pleuralinfla mmation arbeiten, oder?«
»Über entzündliche Prozesse des Brustfells, ja«, erwiderte Lawler und entfaltete seinen zerlesenen, verblichenen Anatomischen Atlas. Jose beugte sich vor, wach, aufmerksam, voll Lernbegierde. Der Junge war wirklich inspirierend. Er gemahnte Lawler an etwas, das er in der letzten Zeit fast vergessen hätte, daß sein Beruf mehr war als nur ein Job: Es war eine Berufung… »Entzündungen und Pleuralergüsse sind dran, beide. Symptomerkennung, Genese, therapeutische Maßnahmen.« Er hörte im Hinterkopf die Stimme seines Vaters, tief, gelassen, unerbittlich, dröhnend wie ein großer Gong. »Ein plötzlich auftretender stechender Brustschmerz beispielsweise…«
Delagard sagte: »Es tut mir leid, aber ich hab keine übermäßig guten Neuigkeiten.«
»Oh?«
Sie befanden sich in Delagards ›Büro‹ auf der Werft. Und es war Mittag, Lawlers gewohnte Pausenzeit zwischen den Sprechstunden. Delagard hatte ihn gebeten, er möge vorbeischauen. Auf dem Holzkelp- Tisch stand eine bereits geöffnete Flasche Beerenkrautschnaps, doch Lawler hatte es abgelehnt, mitzutrinken. Nicht während der Arbeitszeit, hatte er erklärt. Er hatte sich stets bemüht, einen klaren Kopf zu bewahren, wenn er Patienten erwartete (abgesehen natürlich von den Schlückchen Taubkraut-Elixier, und das, sagte er sich, schadete ja dabei nicht. Wenn es überhaupt einen Einfluß hatte, dann höchstens den, daß er klarer denken konnte).
»Ich hab inzwischen ein paar Reaktionen, leider keine guten. Velmise verweigert uns die Aufnahme, Doc.«
Es war, als hätte man ihn in den Unterleib getreten.
»Das haben sie dir mitgeteilt?«
Delagard schob ein Blatt Nachrichtenpergament über den Tisch. »Vor ’ner knappen halben Stunde hat mir Dag Tharn das da gebracht. Von meinem Sohn Kendy, auf Velmise. Er sagt, die hatten gestern abend ihre Ratsversammlung, und der Beschluß war gegen uns. Ihre Einwanderungsquote pro Jahr ist sechs, und sie sind willens, sie auf zehn zu erhöhen, angesichts der außergewöhnlichen Umstände. Aber mehr zu tun sind sie nicht bereit.«
»Also nicht alle achtundsiebzig.«
»Nein. Auf keinen Fall. Die alte Geschichte wie bei Shalikomo. Jede Insel fürchtet sich davor, zu viele Menschen aufzunehmen und dadurch die Gillies in Aufregung zu versetzen. Sicher, man könnte argumentieren, daß zehn Asylanten besser sind als gar keiner… Wenn wir zehn nach Velmise absetzen können, zehn nach Salimil, und noch zehn nach Grayvard…«
»Nein!« sagte Lawler. »Ich will, daß wir alle zusammenbleiben.«
»Aber das weiß ich doch. Okay!«
»Wenn Velmise also ausfällt, was ist die nächste Möglichkeit?«
»Dag verhandelt derzeit grade mit Salimil. Du weißt ja, ich hab auch dort einen Sohn sitzen. Vielleicht verfügt der über etwas mehr Überzeugungsfähigkeit als Kendy. Oder vielleicht sind die Leute von Salimil nicht ganz so miese Kneifärsche! Himmel, man könnte glauben, wir verlangen von Velmise, sie sollen ihre ganze verdammte Siedlung räumen und uns Platz machen. Die könnten uns leicht unterbringen. Vielleicht wär’s ’ne Weile ein bißchen eng, aber so was läßt sich doch hinkriegen. Shalikomos passieren doch nicht immer wieder!« Delagard fummelte in einem Stapel Pergamentblätter auf dem Tisch herum und reichte sie dann Lawler hinüber. »Also, Velmise ist Scheiße. Die Pest über sie. Wir werden schon was finden. Ich will eigentlich jetzt, daß du dir das da mal anschaust.«
Lawler warf einen Blick auf die Blätter. Auf jedem stand eine Liste von Namen in Delagards großer kühner Handschrift gekrakelt.
»Was soll das?«
»Ich hab dir doch vor einigen Wochen schon gesagt, ich habe sechs Schiffe, und das rechnet sich dann auf dreizehn Mann pro Schiff. Aber wie es sich zeigt, werden wir ein Schiff mit elf Personen haben, zwei mit je vierzehn, und die anderen drei mit dreizehn. Du wirst gleich begreifen, warum. Das sind die Passagierlisten, die ich aufgestellt habe.« Er tippte mit dem Finger auf das oberste Blatt. »Da. Das sollte dich am meisten interessieren.«
Lawler überflog das Blatt rasch. Da stand:
ICH UND LIS
GOSPO STRUVIN
DOC LAWLER
QUILLAN KINVERSON
SUNDIRA THANE
DAG THARP
ONYOS FELK
DANN HENDERS
NATIM GHARKID
PILYA BRAUN
LEO MARTELLO
NEYANA GOLGHOZ
»Na? Wie ist das? Gut?« fragte Delagard.
»Was soll das?«
»Hab ich doch grad gesagt. Die Passagierlisten. Die für unser Schiff, die Queen of Hydros. Ich glaub, es ist ’ne ziemlich gute Auswahl.«
Lawler starrte Delagard verwundert an. »Du Erzgauner, Nid. Du bringst es wirklich fertig, deinen eigenen Arsch gut abzusichern!«
»Aber, wovon redest du denn bloß?«
»Ich rede davon, mit welch unendlicher Mühe es dir gelungen ist, für deine persönliche Sicherheit und Bequemlichkeit zu sorgen, während wir auf See sind. Und du genierst dich nicht einmal, mir diese Liste zu zeigen, was? Nein, ich wette, du bist sogar noch stolz drauf! Du hast auf deinem Schiff den einzigen Arzt der Kolonie, dazu noch den erfahrensten Kommunikator, das Beste, was wir annähernd an Ingenieur zu bieten haben, und den Kartographen. Und Gospo Struvin ist zufällig auch der Spitzenkäptn deiner Flotte. Gewiß keine üble Basis-Besatzung für eine Reise von gottweißwielang zu einem gottweißwiefernen Ziel. Und dazu kommt noch Kinverson, der Jäger der See, der dermaßen stark ist, daß man ihn kaum als einen Menschen bezeichnen kann, und der sich auf dem Meeres-Ozean auskennt wie du auf deiner Werft. Ein verdammt gutes Team, das du dir da ausgesucht hast! Und keinerlei Störfälle, keine lästigen Kinder oder alte Leute, keiner, der irgendwie krank wäre. Gar nicht dumm, mein lieber Freund!«
Einen Moment lang, aber wirklich nur ganz kurz, flammte in Delagards glitzernden Äuglein Verärgerung auf.
»Also, sieh doch mal, Doc. Es ist schließlich das Flaggschiff. Und es wird möglicherweise doch keine ganz so leichte Fahrt, wenn wir am Ende gar bis Grayvard fahren müssen. Wir müssen überleben.«
»Müssen? Mehr als die anderen?«
»Du bist unser einziger Arzt. Willst du auf allen Schiffen gleichzeitig präsent sein? Dann versuch es. Ich hab mir das so gedacht: Da du nur auf einem Schiff mitreisen kannst, könntest du ja auch genauso gut auf meinem sein.«
»Aber klar doch.« Lawler fuhr mit dem Finger den Rand des Pergamentbogens entlang. »Aber selbst wenn ich dein Prinzip von ›Delagard-über-alles-und-vor-allem‹ gelten lassen würde, mir gehen trotzdem ein paar deiner Kandidaten nicht so recht ein. Was soll dir beispielsweise Gharkid nützen? Als ein Mensch ist der doch eine absolute Null.«
»Aber er kennt sich mit Seetang aus. Und darin ist er einzigartig, auch wenn er sonst nichts weiß. Er kann uns bei der Nahrungssuche helfen.«