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Der tod struvins war zu plötzlich eingetreten, und zu einem zu frühen Punkt der Reise, als daß sie ihn irgendwie hätten akzeptieren, ja auch nur begreifen können. Auf Sorve war der Tod immer nahe: Einer fuhr mit dem Fischboot zu weit in die Bucht hinaus, und ein Sturm erhob sich aus dem Nichts, oder man wanderte gemütlich über den Hafendeich, und die WOGE brach ohne Vorwarnung herein und spülte dich fort, oder du entdecktest im Flachwasser ein paar köstlich aussehende Muscheln, und dann erwiesen sie sich als gar nicht so gesund. Aber das Leben an Bord des Schiffes schien ein Bereich relativer Unverletzlichkeit zu sein. Vielleicht gerade weil es so zerbrechlich war, nichts weiter als eine winzige Holzschale, ein bloßer Klacks, der inmitten der unvorstellbaren Unermeßlichkeit dahintrieb, hatten sich alle verführen lassen zu glauben, daß sie an Bord sicher seien. Lawler hatte damit gerechnet, daß es Schwierigkeiten geben werde und Spannungen und Entbehrungen, vielleicht auch die eine oder andere schwerere Verle tzung unterwegs nach Grayvard, Herausforderungen an seine in manchem dürftigen medizinischen Fähigkeiten. Aber ein Todesfall? In diesen friedlichen Gewässern? Und dann noch der Tod des Kapitäns? Und dies nach fünf Tagen seit der Abreise von Sorve. Und wie die ersten paar Tage dieser geisterhaften Ruhe beunruhigend und verdächtig waren, so erschien Struvins Tod ihm nun um so mehr als ein böses Omen, eine schreckliche Warnung vor unweigerlich auf sie zukommenden weiteren Kalamitäten.

Die Reisenden wuchsen enger zusammen, so wie sich rosa neue Haut um eine Wunde bildet. Jeder betrug sich entschlossen positiv, betont hoffnungsvoll und demonstrativ taktvoll, bemüht, der sowieso überstrapazierten Psyche der anderen nicht zu nahe zu treten. Delagard verkündete, daß er das Schiffskommando selbst übernehmen werde. Um die Teams der Deckswachen auszugleichen, wurde Onyos Felk der ersten Wache zugeteilt: Er sollte das Team Martello/Kinverson/Braun in den Wanten leiten, Delagard selbst übernahm das neue Team Golghoz/Henders/Thane.

Nach dem kurzen Verlust seiner Kontrolle, als er von Struvins Tod hörte, zeigte Delagard nun äußerlich das Bild von Kompetenz und höchster Unerschrockenheit. Er stand starr und hochgereckt auf der Brücke und überwachte die Arbeit des Tagesteams in der Takelung. Der Wind stand klar aus dem Osten. Die Fahrt ging weiter.

* * *

Vier Tage später schmerzten Lawlers Hände noch immer von der Berührung mit dem Netztier, seine Finger blieben weiterhin steif und taub. Das deutliche rote Linienmuster war mittlerweile zu einem trüben Braun verblichen, doch vielleicht würde Pilya recht behalten, und es würden Narben zurückbleiben. Aber das störte ihn kaum; an seinem Körper befanden sich zahlreiche Narben, die er sich über die Jahre hin durch die eine oder andere Achtlosigkeit zugezogen hatte. Aber die Fingersteifheit beunruhigte ihn. Er brauchte die Sensitivität seiner Finger, und nicht nur für chirurgische Eingriffe, die er hin und wieder ausführen mußte, sondern für die subtilen Palpitationen und Sondierungen am Körper seiner Patienten, die er für seine Diagnose unbedingt brauchte. Er konnte mit steckenstumpfen Fingern die Botschaften nicht entziffern, die ihr Körper aussandte.

Auch Pilya schien sich wegen seiner Hände Sorgen zu machen. Als sie zu ihrer Wache an Deck kam, trat sie zu ihm und ergriff behutsam seine Hände, genau wie sie dies kurz nach Gospo Struvins Tod getan hatte.

»Sieht nicht gut aus«, sagte sie. »Tust du auch deine Salbe drauf?«

»Aber ganz brav. Nur, sie sind inzwischen soweit wieder geheilt, daß die Salbe nicht mehr viel nützen kann.«

»Und die andere Medizin? Die rosa Tropfen? Der Schmerzstiller?«

»O ja. Ja. Ohne die würde ich es wohl kaum aushalten.«

Sie streichelte sacht mit ihren Fingern über die seinen. »Du bist ein so guter Mann, ein so ernsthafter Mann. Wenn dir etwas zustoßen würde, es würde mir das Herz brechen. Ich hab gesehen, wie du mit dem — Ding gekämpft hast, das den Käptn umgebracht hat, und ich hab eine fürchterliche Angst um dich gehabt. Und auch dann, als ich merkte, daß deine Hände verletzt waren.«

Auf dem kantigen stumpfnasigen Gesicht lag ein Ausdruck strahlender reinster Hingabe. Pilya war grobschlächtig und wenig schön, nur ihre Augen waren warm und voller Licht. Und der Kontrast zwischen ihrem Goldhaar und der glatten olivdunklen Haut war höchst reizend. Sie war eine starke, eine unkomplizierte junge Frau, und der Emotionsstrom, den sie jetzt projizierte, war starke und unkomplizierte, bedingungslose Liebe. Lawler wollte sie nicht zu grausam zurückweisen und entzog ihr behutsam seine Hände, lächelte sie dabei aber die ganze Zeit wohlwollend und unverbindlich an. Es wäre so leicht gewesen, das Angebot anzunehmen, einen stillen Winkel im Frachtdeck zu finden, sich die kleine harmlose Lust zu gönnen, die er sich so lange Zeit versagt hatte. Ich bin schließlich weder Priester noch sonst Zwangseunuch, erinnerte er sich. Ich habe schließlich weder ein Zölibats- noch ein Keuschheitsgelübde abgelegt… Aber irgendwie hatte er das Vertrauen zu seinen eigenen Gefühlen eingebüßt. Er war nicht bereit, sich sogar auf ein so unbedrohliches Abenteuer einzulassen, wie dieses es wahrscheinlich sein würde, weil er sich seiner selber nicht mehr sicher war.

»Meinst du, wir werden es überstehen?« fragte sie auf einmal unerwartet.

»Überstehen? Aber sic her werden wir!«

»Nein«, sprach sie weiter. »Ich hab immer noch Angst, daß wir alle hier auf See zugrunde gehen werden. Alle. Gospo war nur der erste.«

»Aber nein, es wird schon klappen«, sagte Lawler. »Das hab ich dir doch neulich schon gesagt, und ich sag es dir jetzt noch einmal. Gospo hatte einfach Pech. Mehr steckt da nicht dahinter. Es gibt immer mal jemand, der kein Glück hat.«

»Aber ich will leben. Ich will nach Grayvard kommen. Auf Grayvard wartet ein Ehemann auf mich. Das hat mir Schwester Thecla gesagt, als sie vor unserer Abreise mein Schicksal gelesen hat. Sie hat gesagt, wenn ich am Ende der Reise ankomme, werde ich meinen Gemahl finden.«

»Diese Schwester Thecla hat einer Menge Menschen eine ganze Menge verrücktes Zeug prophezeit, was uns am Ende unserer Reise widerfahren soll. Du solltest nichts auf das Geschwätz von Prophetinnen geben. Aber wenn du dir einen festen ehelichen Partner wünschst, Pilya, dann hoffe ich, daß in deinem Fall Schwester Thecla ausnahmsweise mal die Wahrheit prognostiziert hat.«

»Ich brauche einen älteren Mann. Jemanden der gescheit ist und stark, einen, der mich nicht nur liebt, sondern mir auch etwas beibringt. Keiner hat mir je was beigebracht, weißt du. Nur die Arbeit an Bord, eines Schiffs, also arbeite ich eben auf Schiffen und bin für Delagard hierhin und dorthin und überallhin gefahren, und ich hab nie einen festen Mann gehabt. Aber jetzt, jetzt will ich einen. Es ist Zeit für mich. Ich seh doch hübsch aus, oder nicht?«

»Sehr hübsch«, sagte Lawler.

Arme Pilya, dachte er, und er und fühlte fast so etwas wie Schuldgefühle, daß er sie nicht lieben konnte.

Sie wandte sich von ihm weg, als begreife sie, daß das Gespräch nicht in die von ihr gewünschte Richtung führte, und nach einer Pause sagte sie: »Ich denke immer an die kleinen Sachen von der ERDE, die du mir gezeigt hast, die du jetzt bei dir in der Kabine aufbewahrst, diese wunderschönen Fragmente. Wie bezaubernd sie sind. Ich hab dir gesagt, ich möchte gern eins davon haben, aber du hast es abgelehnt und gesagt, du kannst mir nicht eines davon geben, aber jetzt habe ich es mir sowieso anders überlegt, und ich will gar keins mehr. Sie sind Vergangenheit, mich interessiert nur noch die Zukunft. Du lebst zu stark in der Vergangenheit, Doktor.«

»Für mich gibt es da mehr Platz als in der Zukunft. Mehr Raum, sich umzusehen.«

»Nein nein, die Zukunft ist sehr gewaltig. Die Zukunft setzt sich immer weiter und weiter fort. Warte nur ab und sieh, ob ich nicht recht habe. Du solltest dieses alte Zeug wegwerfen. Ich weiß, das wirst du niemals tun, aber du solltest es.« Sie lächelte ihn schüchtern und zärtlich an. »Ich muß jetzt rauf«, sagte sie dann. »Du bist ein sehr feiner Mensch, ich dachte, ich muß dir das sagen. Und ich möchte auch, daß du weißt, daß du in mir einen Freund hast, wenn du einen brauchst.« Und damit wandte sie sich um und eilte davon.