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Lawler sah ihr nach, als sie ins Tauwerk kletterte. Arme Pilya, dachte er noch einmal. Was bist du doch für ein liebes Kind. Aber ich könnte dich nie richtig lieben, wie ich es müßte. Trotzdem, du bist ein feiner Mensch.

Sie kletterte leicht und geschmeidig und war Augenblicke später hoch droben. Sie kletterte wie einer von den Affen, an die er sich aus den Geschichtenbüchern seiner Kindheit erinnerte; diese Bücher, die so voller unverständlicher Berichte aus der Landmassenwelt ERDE waren, einem Ort, an dem es Dschungel gab, Wüsten, Gletscher, und Affen und Tiger, Kamele und schnelle Pferde, Eisbären, Walrosse, Geißen, die von Bergzacke zu Bergzacke sprangen. Was waren Bergzacken? Und was Geißen? Er hatte sich selbst eine Vorstellung von ihnen erfinden müssen — aus den spärlichen Hinweisen in den Geschichten. Geißen waren irgendwie hager und zottig, mit enorm langen Beinen mit stählerner Sprungkraft in den Muskeln. Und Felszacken waren rauhe nach oben gestemmte Gesteinsblöcke, so ähnlich wie Holzkelpquader, nur unvorstellbar viel härter. Affen waren häßliche kleine Menschen, braun und ganz behaart und sehr schlau, und sie huschten hurtig unter Geschwätz und Gekreische durch Baumwipfel. Nun, Pilya war ganz und gar anders. Doch sie schwang sich dort oben in der Takelung her und hin, als wäre sie in ihrer natürlichen Umgebung.

Und dann merkte Lawler mit Bestürzung, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, wie das damals war, als er Anya, Pilyas Mutter, geliebt hatte… vor zwanzig Jahren. Er wußte nur noch, daß er es getan hatte. Alles andere, die Laute, die Anya dabei von sich gegeben hatte, wie sie sich bewegte, die Form ihrer Brüste — alles dahin. So vergangen wie die ERDE selbst war ihr Stöhnen. Ganz so, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. Anya hatte ebensolche goldene Haare und diese olivdunkle Haut gehabt wie Pilya, daran erinnerte er sich noch, aber jetzt glaubte er auf einmal, ihre Augen wären blau gewesen. Nach Mireyls Verschwinden war Lawler in einem elenden Zustand gewesen, als blutete er aus tausend Wunden, und Anya war einfach dahergekommen und hatte ihm ein wenig Trost geschenkt. Und wie die Mutter, so die Tochter. Waren Mütter und Töchter auch im Liebesakt gleich? Trieb sie eine ihnen unbewußte Kraft der Gene? Würde Pilya sich in seinen Armen winden, verschwimmen, sich unter seinen Augen in ihre eigene Mutter verwandeln? Und würde er in ihrer Umarmung die verlorene Erinnerung an Anya wiederfinden? Lawler erwog diese Gedanken. Er überlegte, ob das Experiment sich lohnte. Nein, entschied er dann. Nein.

»Studierst du die Wasserblumen, Doktor?« fragte Father Quillan, der auf einmal neben ihm stand.

Lawler blickte zu ihm hin. Der Priester hatte eine merkwürdig gleitende Art, sich einem zu nähern; er materialisierte sich quasi aus der Luft, als bestünde er irgendwie aus Ektoplasma, und kam scheinbar ohne Bewegung zu ihm an der Reling geschwebt. Und dann stand er plötzlich neben ihm in metaphysisch wabernder Unbestimmtheit.

»Wasserblumen?« fragte Lawler geistesabwesend und ein wenig amüsiert darüber, daß der Geistliche ihn mitten in recht lasziven Spekulationen ertappt hatte. »Oh. Ach ja, dort. Ja, ich sehe sie.«

Und wie hätte er sie auch nicht sehen können? An diesem strahlenden sonnigen Morgen war die Fläche des Meeres mit Blüten des Wassers allüberall bedeckt. Es waren hochgereckte fleischige Stengel von etwa einem Meter Länge mit leuchtenden, faustgroßen, sporenförmigen Gebilden am anderen Ende, höchst bunt und grellfarbig, hell scharlachrote mit gelben, grüngestreiften Fetalen, darunter seltsame pralle schwarze Luftsäcke. Diese Luftsäcke hingen dicht unter der Wasseroberfläche und hielten die Wasserblüten in schwimmender Stellung. Sogar wenn ein mal eine größere Woge heranrollte, trieben die Blüten sofort danach wieder zurück in ihre senkrechte Position — wie nimmermüde Stehaufmännchen, die immer und immer wieder umgeworfen werden konnten, aber unweigerlich immer wieder in ihre Vertikalstellung zurückfanden.

»Welch wundersame Elastizität«, sagte Quillan. »Wahrhaftig — eine mahnende Lektion für uns alle«, sagte Lawler, der sich auf einmal veranlaßt fühlte, eine Laienpredigt zu halten. »Wir müssen uns immer bemühen, ihrem Beispiel nachzueifern. Wir bekommen in diesem Leben unentwegt Schläge versetzt, immer wieder, und jedesmal müssen wir uns wieder aufrichten und weitermachen. Wir sollten uns die Wasserblüte zum Vorbild nehmen: Flexibel allen Verletzungen ausweichend, völlig resistent, fähig, allen Schicksalsschlägen zu widerstehen. Leider aber sind wir nicht so widerstandsfähig wie Wasserblumen, nicht wahr, Father?«

»Ich würde sagen, du bist es, Doktor!«

»Ach, wirklich?«

»Man schätzt dich wirklich, weißt du das nicht? Jeder, mit dem ich gesprochen habe, äußerte sich voll des Lobes über deine Geduld, deine Toleranz, dein Wissen und deine Charakterstärke. Die Menschen sagen mir, du bist eine der stabilsten, stärksten und geschmeidigsten Personen der Gemeinschaft. Besonders was deine Charakterstärke angeht.«

Das klang wie die Beschreibung eines völlig Fremden, der weit weniger starr und unbeugsam war als Valben Lawler. Er lachte glucksend. »Äußerlich erwecke ich vielleicht diesen Eindruck. Das könnte sein. Aber wie falsch das alles ist.«

»Ich war stets davon überzeugt, daß eine Person das ist, als was sie anderen erscheint«, erklärte der Priester. »Was einer von sich selber denkt und hält, das ist ungenau und absolut irrelevant. Der wahre Wert einer Person läßt sich nur an der Wertschätzung durch andere wirklich bemessen.«

Lawler warf dem Mann einen verblüfften Blick zu. Aber dessen schmales Asketengesicht sah vollkommen ernst und fest aus.

»Und das ist es, woran du glaubst?« fragte Lawler und merkte, daß seine Stimme etwas gereizt klang. »Sowas Absurdes hab ich schon seit langem nicht mehr gehört. Aber natürlich, nein, nein, du spielst nur so ein bißchen mit mir herum, ja? Solche Spielchen spielt ihr doch gern.«

Der Geistliche gab darauf keine Antwort. Dann schwiegen sie beide im kühlen Frühsonnenschein. Lawler starrte in die weite Leere hinaus, bis sich sein Blick verlor, und er nur noch ein großes tanzendes Farbengemisch sah, ein Ballet der Wasserblüten.

Nach ein paar Sekunden schaute er genauer hin, was sich da draußen abspielte.

»Ich hege die Vermutung, daß nicht einmal die Wasserblüten völlig unverletzbar sind, wie?« sagte er und streckte den Arm hinaus. Das Maul eines riesenhaften Unterwassertieres war am jenseitigen Rand des Meeresblütenfeldes aufgetaucht und zog nun dicht unter der Oberfläche zwischen ihnen dahin, ein gewaltiger dunkler Schlund, in dem die farbigen Blütenköpfe dutzendweise verschwanden. »Man kann so flexibel sein, wie nur möglich, aber es kommt irgendwann immer was daher, macht dir einen Strich durch die Rechnung und frißt dich. Stimmt es nicht, Father Quillan?«

Die Antwort des Priesters ging in einem plötzlichen heftigen Windstoß verloren.

Wieder trat ein langes, recht unterkühltes Schweigen ein. In Lawlers Kopf hallten noch Quillans Worte nach: Eine Person ist stets das, als was sie anderen erscheint… Was einer so über sich selber denkt und von sich glaubt, ist ungenau und absolut irrelevant. Das war doch absoluter Unsinn, oder? Oder doch nicht? Nein, selbstverständlich war es Quatsch.

Und dann hörte er seine eigene Stimme plö tzlich und zu seiner völligen Verblüffung fragen: »Father Quillan, was hat dich eigentlich zu dem Entschluß gebracht, überhaupt nach Hydros zu kommen?«