»Der Grund?«
»Ja, der Grund. Das hier ist ein verdammt ungastlicher Planet, wenn man zufällig ein Mensch ist. Er ist nicht für uns geschaffen, und es gelingt uns hier nur so knapp, trotz der unwirtlichen Bedingungen zu leben, und sobald einer mal hier ist, kommt er nie wieder fort. Was veranlaßte dich dazu, dich hier freiwillig auf Lebenszeit zu verbannen?«
Die Augen Quillans verloren auf merkwürdige Weise ihre Stumpfheit. Mit bemerkenswertem Feuer sagte er: »Ich bin gekommen, weil mich Hydros unwiderstehlich anzieht.«
»Das ist keine befriedigende Antwort.«
»Nun, dann…« Die Stimme des Priesters war auf einmal scharf geworden, als merke er, daß Lawler ihn bedrängte, etwas preiszugeben, das er lieber für sich behalten wollte. »Nehmen wir an, ich bin hierher gekommen, weil hier der Ort ist, an dem sich zuletzt der ganze Müll der Galaxis einfindet. Das hier ist doch eine Welt, die ausschließlich bevölkert ist von Aussteigern, Ausgestoßenen, den Überflüssigen und Unangepaßten aus dem Kosmos. Ist es nicht so?«
»Aber keineswegs!«
»Ihr alle seid Abkömmlinge von Kriminellen. In der übrigen Galaxis gibt es heute keine Kriminellen mehr. Auf den übrigen Welten gibt es heutzutage keine Soziopathen mehr. Alle Menschen sind geistig gesund.«
»Das bezweifle ich allerdings stark!« Lawler vermochte nicht zu glauben, daß der Priester das ernstgemeint haben könne. »Sicher, wir sind Abkömmlinge von verurteilten Straftätern, einige von uns. Und das ist kein Geheimnis. Von Menschen, die jedenfalls irgendwann einmal als Verbrecher galten. Mein eigener Ururgroßvater beispielsweise wurde hierher deportiert, weil er einfach Pech hatte, weiter nichts. Er hat unabsichtlich einen Menschen getötet. Doch nehmen wir mal an, du hast recht, und wir sind hier alle nichts weiter als Abschaum und Menschheitsmüll und die Abkömmlinge von Menschheitsmüll. Damit wäre meine Frage immer noch nicht befriedigend beantwortet: Warum kommst du dann hierher zu uns?«
Die frostigen blauen Augen des Geistlichen leuchteten. »Ist das denn nicht offensichtlich? Weil ich genau hierher gehöre!«
»Damit du deinen himmlischen Auftrag bei uns erfüllen und uns zum Heil führen kannst?«
»Aber keineswegs. Ich bin um meinetwillen gekommen, nicht euretwegen.«
»Ach? Also bist du aus reinem Masochismus hier eingewandert? Getrieben von einem Zwang zur Selbstbestrafung? Ist es das, Father Quillan?« Der Geistliche schwieg. Aber Lawler wußte, er hatte das Richtige getroffen. »Eine Bestrafung wofür? Für ein Verbrechen? Du hast mir soeben gesagt, es gibt keine Verbrecher mehr.«
»Meine Verbrechen richteten sich gegen GOTT. Und somit bin ich grundsätzlich einer von eurer Art. Zu einem Auswurf und Verworfenen, wegen meiner mir angeborenen Natur.«
»Ein Verbrechen gegen Gott…«, sagte Lawler nachdenklich. ›Gott‹, das war für ihn ein ebenso ferner und unklarer Begriff wie ›Affen‹, ›Dschungel‹, ›Felszinnen‹ und ›Berggeißen‹. »Was für ein Verbrechen könnte man denn überhaupt gegen Gott begehen? Wenn er angeblich allmächtig ist, muß er höchstwahrscheinlich auch völlig unverletzlich sein, und wenn er nicht allmächtig ist, wie könnte es dann Gott sein? Aber davon mal abgesehen, es ist erst ein, zwei Wochen her, daß du mir gesagt hast, du wüßtest nicht, ob du an Gott glaubst oder nicht.«
»Und auch dies ist bereits ein Verbrechen wider IHN.«
»Ja, aber nur, wenn man an ihn glaubt. Wenn es ihn nämlich nicht gibt, kann es ja kaum eine Sünde oder ein Verbrechen gegen ihn sein, nicht an ihn zu glauben.«
»Du argumentierst so raffiniert wie ein Theologe«, sagte Quillan anerkennend.
»Hast du das neulich wirklich ernst gemeint, als du sagtest, daß du dir in deinem Glauben nicht sicher bist?«
»Ja.«
»Und du hast doch nicht etwa so neckische Verbalspielchen mit mir getrieben? Nicht so einen raschen Klacks Zynikersenf auf meinen Teller, weil es dich momentan grad überkam, witzig zu sein?«
»Nein. Ganz gewiß nicht. Ich schwöre es dir.« Quillan streckte die Hand aus und legte sie auf Lawlers Handgelenk; es war eine unerwartet intime und vertrauliche Berührung, die Lawler unter anderen Umständen möglicherweise als unannehmbare Zudringlichkeit hätte empfinden können, die jedoch in diesem Moment beinahe als liebenswert erschie n. Mit dunkler, aber klarer Stimme sagte der Priester: »Ich habe mein Leben dem Dienst Gottes geweiht, als ich noch sehr jung war. Das hört sich ziemlich bombastisch an, ich weiß. Aber in der praktischen Wirklichkeit bedeutete es eine Riesenmenge schwerer und unangenehmer Arbeit, nicht bloß lange Gebetsstunden in kalten, zugigen Räumen zu unmöglich frühen oder späten Zeiten, morgens und nachts, sondern auch Arbeiten, die so ekelhaft sind, daß wahrscheinlich nur ein Arzt begreifen kann, was ich meine. Sozusagen die ständige Waschung der dreckigen Füße der Armut. Schön und gut, ich hatte es mir gewählt. Und ich wußte vorher, daß ich mich freiwillig dazu entschließen mußte, und ich erwartete auch keine Orden dafür. Was ich aber nicht wußte, Lawler, was ich mir im Anfang nicht einmal im entferntesten hätte träumen lassen, das war folgendes: Je tiefer ich mich darauf einließ, meinem Gott zu dienen, indem ich der leidenden Menschheit zu dienen versuchte, desto stärker und häufiger verletzbar wurde ich und desto häufiger überkamen mich Perioden absoluter seelischer Abgestumpftheit. Über lange Perioden hin fühlte ich mich von dem Universum um mich herum vollkommen abgeschnitten, die Menschen wurden mir so fremd, als wären sie Außergalaktische, und ich besaß nicht mehr einen Funken von Glauben und Zutrauen in die Höhere Macht, in deren Dienst ich feierlich mein ganzes Leben überantwortet hatte. Es gab Zeiten, da fühlte ich mich so absolut allein und verlassen, daß ich es dir wirklich nicht beschreiben könnte. Und je wütender ich mich in die Arbeit stürzte, desto sinnloser wurde das alles. Es war ein höchst grausamer Jux: Ich plagte mich ab, nehme ich heute an, um mir Gottes Gnade zu erwirken. Und statt dessen verpaßte ER mir ein paar deftige Löffel voll von Seiner Gnädigen Abwesenheit. Kommst du noch mit, Lawler?«
»Und was glaubst du, was diesen Zustand seelischer Abgestumpftheit in dir bewirkt hat?«
»Um das herauszufinden, bin ich hierher gekommen.«
»Und wieso gerade hierher?«
»Weil es hier keine organisierte Kirche gibt. Und nur höchst fragmentarische Humangemeinschaften. Weil dieser Planet als solcher uns Menschen feindlich ist. Und weil es ein Endpunkt ist, von dem aus es keine Rückkehr gibt, keine Umkehr. Genau wie das Leben selber auch.« In den Augen des Geistlichen tanzte nun etwas, das sich dem Begreifen Lawlers entzog, etwas so Verwirrendes wie eine Kerzenflamme, die statt nach oben, nach unten brennt. Er schien Lawler aus einer tiefen Ferne der Negation heraus anzustarren, einer Ewigkeit, die er erreicht wußte und in die er sehnlichst zurückzukehren wünschte. »Ich wollte mich hier bei euch selbst loswerden, verstehst du? Um mich dabei vielleicht selber wiederzufinden. Oder doch — Gott.«
»Gott? Wo denn? Irgendwo da drunten auf dem Grund dieses unermeßlichen Ozeans?«
»Warum nicht? Sonstwo ist ER doch nirgends zu finden, oder?«
»Ich weiß das wirklich nicht«, begann Lawler. Doch dann ertönte von hoch über ihnen ein durchdringender Schrei.
»Land in Sicht!« rief Pilya Braun. Sie war in den vordersten Toppen und stand auf der Rah. »Insel im Norden! Insel im Norden!«
Aber es gab keine Inseln in diesen Gewässern. Weder nördlich noch südlich, noch östlich oder westlich! Wenn so etwas bekannt gewesen wäre, dann hätten ja alle an Bord seit Tagen danach Ausschau gehalten. Aber noch nie hatte jemand etwas von Inseln in dieser Gegend berichtet.
Onyos Felk, der im Ruderhaus stand, stieß ein ungläubiges Grunzen aus. Kopfschüttelnd stapfte der Kartograph auf seinen kurzen Säbelbeinen auf Pilya zu. »Was schnatterst du da, Mädchen? Was für ’ne Insel? Was hätte ’ne Insel in dieser See verloren?«