Und dann wollte er sagen: »Mein Vater, der große Doktor Bernat Lawler, an den ihr alle euch noch gut erinnert, hat diesen Augenblick vorausgesehen. ›Eines Tages‹, sagte er oft zu mir, als ich noch ein Junge war, ›werden unsere Freunde-die-Dwellers, die Inselsassen, eine stetige, zuverlässige Stromversorgung aufbauen. Und dann wird hier eine neue Ära beginnen, und die Sassen und die Menschen werden in herzlicher Eintracht zusammenarbeiten…‹«
Etcetera, etcetera. Er würde seine Lobsprüche geschickt verflechten mit dem nachdrücklichen Hinweis, wie unabdingbar das Zusammenleben in Harmonie der beiden Rassen sei, verflechten und sich nach und nach zu dem klaren Vorschlag durcharbeiten, Hydraner und Menschen sollten doch nun endlich die frühere abweisende Kühle aufgeben und im Namen eines weiteren gemeinsamen technologischen Fortschritts an einem Strang ziehen. Er wollte den geheiligten Namen des geliebten verstorbenen Dr. Bernat Lawler so oft wie möglich erwähnen, wollte sie daran mahnen, wie dieser zu seinen Lebzeiten unermüdlich mit seiner erstaunlichen ärztlichen Kunst dem Wohl und der Gesundheit von Sassen und Menschen gleichermaßen gedient hatte, nicht wenige Wunderheilungen vollbracht hatte, sich selbstlos für beide Inselrassen aufopferte — er würde immer dicker auftragen, bis die Luft vor Gefühlsüberschwang bebte und die Gillies, von der neugewonnenen interrassischen Liebe zu Tränen gerührt, freudig auf Lawlers beiläufig gemachten Vorschlag einsteigen würden, daß es ein guter Anfang wäre, wenn man die Neue Ära damit eröffnen würde, daß die Sassen den Menschen die Möglichkeit einräumten, das neue Kraftwerk so umzurüsten, daß es neben Elektrizität auch Trinkwasser produzieren könne. Und danach dann sein fundamentaler Vorschlag: Die Menschen würden die Meerwasser-Entsalzungs-Fabrik eigenständig entwerfen und errichten, den Kondensator, die Transportpipelines, kurz, das gesamte System… und es dann ganz in die Hände der Gillies übergeben… Hier habt ihr es, ihr braucht es nur anzuschließen. Es kostet euch gar nichts, und wir werden in Zukunft nicht länger auf das in den Zisternen gesammelte Regenwasser angewiesen sein. Und so werden wir fürderhin und in alle Zukunft die besten Freunde sein, ihr Sassen und wir Menschen…
Dies war die Phantasievorstellung, durch die Lawler aus seinem Schla f gerissen worden war. In der Regel neigte er keineswegs dazu, sich auf derart realitätsferne Unternehmungen einzulassen. Seine jahrelange Praxis als Arzt — und auch wenn er nicht ein medizinisches Genie war wie sein Vater, so war er doch ein hart arbeitender und einigermaßen erfolgreicher Allgemeinpraktiker und leistete unter den gegebenen Umständen ziemlich viel — hatte ihn zum Realismus erzogen und zu einer recht pragmatischen Einstellung gegenüber fast allen Dingen. Dennoch war er in dieser Nacht irgendwie zu der Überzeugung gelangt, daß er das einzige Wesen auf der Insel sei, dem es möglicherweise gelingen konnte, diese Gillies, diese ›Kiemlinge‹, zu überreden, die Angliederung einer Meerwasser-Entsalzungsanlage an ihr Kraftwerk zu erlauben, Ja, er würde erfolgreich sein, wo alle anderen versagt hatten.
Eine recht kleine Chance, das wußte er. Doch in den frühen Morgenstunden neigen Chancen manchmal dazu, üppiger auszusehen als im klaren Licht des Vormittags.
Was es auf der Insel bislang an Elektrizität gab, stammte aus unhandlichen, wenig effizienten Chemobatterien, aus Säulen von Zinupfer-Scheiben, getrennt durch in Sole getränkte Streifen aus Kriechkraut. Die Gillies — die ›Kiemlinge‹, ›Sassen‹, also die Hydraner, die dominante Spezies auf der Insel, beziehungsweise der Welt, auf der Lawler sein ganzes Leben zugebracht hatte — arbeiteten schon, soweit er sich erinnern konnte, an einer verbesserten Methode der Gewinnung von Elektroenergie, und nun endlich, so wenigstens dampfte es aus der Gerüchteküche im Ort, stand das neue E-Werk kurz vor der Fertigstellung und sollte ans Netz gehen heute oder morgen, aber ganz bestimmt nächste Woche! Und wenn den Gillies dies tatsächlich gelingen sollte, bedeutete das für beide Rassen eine einschneidende Veränderung. Die Kiemlinge hatten sich auch schon (allerdings wenig begeistert) bereit erklärt, den Menschen einen Teil der neuen Elektrizität zur Nutzung abzugeben, was nach jedermanns Ansicht grandios von ihnen war. Noch viel großartiger aber wäre es, jedenfalls für die achtundsiebzig Menschen, die auf der kleinen engen Insel Sorve ein karges Leben von minderer Qualität fristeten, wenn die Gillies sich erweichen ließen und den Menschen gestatteten, daß ihre Fabrik auch zur Wasserentsalzung benutzt werde, damit die Menschen nicht weiter auf die gnädige Willkür der sorvesischen Regenfälle angewiesen wären, was die Trinkwasserversorgung anging. Es mußte schließlich auch den Kiemlingen einleuchten, daß für ihre menschlichen Metöken das Dasein unendlich viel leichter sein würde, wenn diese zuverlässig mit einer unbegrenzten Trinkwasserversorgung rechnen konnten.
Aber natürlich hatten die Gillies bisher noch durch nichts erkennen lassen, daß sie sich darüber Gedanken machten. Sie hatten noch nie besonderen Eifer bewiesen, dem Häuflein Menschen in ihrer Mitte irgendwelche Erleichterungen zu verschaffen. Trinkwasser war für Menschen lebensnotwendig, doch den Gillies konnte das piepsegal sein. Was Menschen möglicherweise brauchten, sich wünschten oder zu erhalten hoffen mochten, das berührte die Gillies nicht im geringsten. Und so war es denn die Vision gewesen, daß er — im Alleingang und durch seine Überzeugungskraft — das alles ändern könne, was Lawler in der verflossenen Nacht den Schlaf gekostet hatte.
Aber — zum Teufel damit! Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen.
Lawler war in der Tropennacht barfuß und trug nur einen gelben Sarong aus Wasserlattichfasern um die Hüften. Die Luft warm und schwer, die See ruhig. Die Insel — dieses Geflecht aus lebendem, halb- lebendem und ehemals lebendem Gewebe, das auf der Oberfläche des weltumspannenden weiten Ozeans dahintrieb — schwankte nahezu unmerklich in der Dünung unter seinen Füßen. Wie alle bewohnten Inseln auf Hydros war auch Sorve ein wurzelloser, frei wandernder Herumtreiber und zog überall dorthin, wo ihn die Strömungen, die Winde und die gelegentlichen Flutwellen hintreiben mochten. Lawler spürte, wie die dichtverflochtenen Ruten des Bodens unter seinen Schritten nachgaben und sich dehnten, und er hörte die See wenige Meter weiter unten klatschen. Aber seine Bewegungen waren leicht und mühelos, und sein langer schlanker Körper paßte sich automatisch dem schwankenden Rhythmus der Insel an. Es war für ihn etwas ganz Natürliches.
Die milde Nacht war allerdings trügerisch. Fast das ganze Jahr hindurch war Sorve alles andere als ein angenehmer Aufenthaltsort. Das Klima wechselte zwischen Heißtrocken- und sanft Naßkalten-Perioden, dazwischen nur ein kurzes sanft-sommerliches Zwischenspiel, wenn Sorve in milden feuchten Äquatorialbreiten dahintrieb… die kurze Illusion eines angenehmen, leichten Lebens. Und das war sie jetzt, die ›gute‹ Zeit im Jahr. Es gab Nahrung im Überfluß, und die Lüfte wehten süß. Die Inselbewohner genossen es. Der Rest des Jahres bedeutete eher einen Kampf ums Überle ben.
Ohne Eile schritt Lawler um das Reservoir herum und über die Rampe zur Unterterrasse hinab. Von dort fiel die Insel sacht bis zum Ufer ab. Er kam an den verstreuten Gebäuden des Werftgeländes, von wo aus Nid Delagard sein maritimes Imperium regierte, und an dem Gewirr unbestimmt kugeliger Strukturen der Hafenfabriken, in denen Metall — Nickel, Eisen, Kobalt, Vanadium, Zinn — aus dem Gewebe von niederen Seegeschöpfen vermittels langsamer und ineffizienter Prozesse gewonnen wurde. Zwar konnte man kaum etwas deutlich sehen, doch nach vierzig Jahren auf dieser einen kleinen Insel bereitete es Lawler keinerlei Schwierigkeiten, sich auch im Dunkeln überall zurechtzufinden.
Der große zweigeschossige Schuppen, in dem das Kraftwerk eingerichtet wurde, lag direkt rechts in geringer Entfernung vor ihm dicht am Gestade. Er strebte in diese Richtung.