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Du lebst zu sehr in der Vergangenheit, hatte Pilya zu ihm gesagt. Doch wie sollte er denn nicht? Die Vergangenheit lebte in ihm. Nicht nur die ERDE, dieser ferne mythische Ort, sondern auch Sorve, ganz besonders Sorve, wo sein Fleisch und Blut, sein Geist und seine Seele entstanden waren. Die Vergangenheit stieg zu allen Zeiten immer wieder in ihm herauf. So auch jetzt, hier an der Reling, während er auf diese fremdartige Gelbe See hinausblickte.

* * *

Er war zehn Jahre alt, und sein Großvater hatte ihn zu sich in seinen Vaargh gerufen. Er hatte sich drei Jahre vorher aus der Doktorpraxis zurückgezogen und verbrachte seine Tage nun damit, über die Ufermauer zu spazieren; er war zusammengeschrumpft und sah gelblich aus, und es war klar, daß er nicht mehr sehr lange zu leben haben würde. Er war ein sehr alter Mann, so alt, daß er sich sogar noch an einige der Siedler der ersten Generation erinnern konnte, sogar noch an seinen eigenen Großvater, an Harry Lawler, den ›Gründer-Harry‹.

»Ich hab da etwas für dich, Junge«, sagte der Großvater. »Da komm her. Näher! Siehst du das Bord da, Valben? Mit den Dingen von der ERDE drauf? Bring sie mir her.«

Es gab da vier ERD-Dinge, zwei flache, runde aus Metall, ein großes aus rostigem Metall und ein Stück bemalter Tonscherben. Es waren einmal sechs Stücke gewesen. Aber die kleine Statuette und das rohe Steinstück befanden sich damals bereits im Vaargh von Valbens Vater. Der Großvater hatte schon damit begonnen, seinen Besitz weiterzugeben.

»Da, Junge«, sagte der alte Mann. »Ich möchte, daß das dir gehört. Es ist von meinem Großvater Harry, und der hat es von seinem Großvater, der es von der ERDE mitnahm, als er in den Raum ging. Und nun gehört es dir.« Und er reichte ihm den orange und schwarz bemalten Tonscherben.

»Nicht für meinen Vater? Für meinen Bruder?«

»Nein, dies ist für dich«, sagte der Großvater. »Damit es dich an die ERDE erinnert. Du wirst aber gut darauf achtgeben und es nicht verlieren, ja? Denn wir besitzen nur sechs Dinge von der ERDE, und wenn sie uns verlorengehen, können wir sie nie mehr ersetzen. Da, nimm. Nimm!« Und er drückte Valben das Tonstück in die Hand. »Das stammt aus Griechenland. Vielleicht hat es einmal Sokrates gehört. Oder Platon. Und nun gehört es dir.«

Dies war das letzte Mal, daß er mit seinem Großvater gesprochen hatte.

Danach trug er monatelang den bemalten Scherben überall mit sich herum. Und wenn er mit den Fingern über die gezackte Bruchstelle strich, schien es ihm, als werde die ERDE in seiner Hand wieder lebendig, als spräche aus diesem Stückchen gebrannten Tons Sokrates persönlich zu ihm, oder Platon. Wer immer sie gewesen sein mochten.

* * *

Er war fünfzehn. Sein Bruder Coirey, der davongelaufen war, um zur See zu fahren, war zu Besuch heimgekommen. Er war neun Jahre älter, der älteste von den einst drei Brüdern, doch der mittlere, der junge Bernat, war schon vor so langer Zeit gestorben, daß Valben sich kaum noch an ihn erinnern konnte. Coirey hatte eines Tages der nächste Inseldoktor werden sollen, hatte aber dafür kein Interesse aufbringen mögen. Das Amt eines Doktors hätte ihn an eine einzige Insel gebunden. Aber Coirey sehnte sich nach dem Meer, dem Meer, dem weiten Meer. Und so war er fortgegangen — aufs Meer; und Briefe waren von ihm eingetroffen, von Orten, die für Valben nur Namen bedeuteten: Velmise und Sembilor und Thetopal und Meisa Meisanda; und nun war Coirey selbst zurückgekommen, nur für einen kurzen Zwischenstop auf Sorve auf der Fahrt nach einem Ort namens Sumbalimak, der in einem Azur-See genannten Meer lag, so weit weg, daß es fast wie auf einer anderen Welt erschien.

Valben hatte seinen Bruder vier Jahre nicht mehr gesehen. Und er wußte nicht, was er erwarten sollte. Der Mann, der dann eintrat, hatte das Gesicht seines Vaters, das Gesicht, das auch er allmählich bekam, mit kräftigen Zügen, starker Kieferpartie, langer gerader Nase, doch er war dermaßen von Sonne und Wind gebräunt, daß seine Haut aussah wie ein Stück alter Fischhautteppich, und über die eine Wange lief eine scharfe Narbe, rötlichblau vom Auge bis zum Mundwinkel. »Da hat mich ein Fleischfisch erwischt«, sagte er. »Aber ich hab ihn auch erwischt.« Und er knuffte Valbens Oberarmmuskel. »He, Junge, du bist gewachsen. Du bist genauso lang wie ich, Mann, wahrhaftig. Aber leichter bist du. Was du brauchst, das ist ein bißchen mehr Fleisch auf die Knochen.« Coirey zwinkerte ihm zu. »Willste nicht irgendwann mal mit mir nach Meisa Meisanda mitkommen? Die kennen sich dort aus mit dem Essen. Jeder Tag ein Festtag. Und die Weiber, Junge! Die Weiber!« Er runzelte die Stirn und sagte: »Du stehst doch auf Weiber, oder? Klar tuste das. Richtig? Also, wie wär’s damit, Val? Wenn ich von Simbalimak zurückkomme, machst du dann ’nen Trip nach Meisa Meisanda mit mir?«

»Aber du weißt doch, ich kann hier nicht weg, Coirey. Ich muß doch studieren.«

»Studieren?«

»Vater bringt mir die Medizin bei.«

»Ah ja, richtig. Das hatte ich doch glatt vergessen. Du wirst ja der nächste Doktor Lawler sein. Aber deswegen kannst du doch vorher mal ’ne kleine Seereise mit mir machen, oder was spricht dagegen?«

»Nein«, sagte Valben. »Nein, das kann ich nicht.«

Und dann verstand er, warum der Großvater ihm den kleinen Tonscherben von der ERDE geschenkt hatte und nicht seinem älteren Bruder Coirey.

Sein Bruder war nie wieder nach Sorve zurückgekehrt.

* * *

Dann war er siebzehn und steckte ganz tief in seinem Studium der Heilkunst.

»Es wird höchste Zeit, daß du mal mit mir zusammen eine Autopsie durchführst, Valben«, sagte sein Vater. »Bislang war ja alles reine Theorie bei dir. Aber früher oder später mußt du den Sack mal aufmachen und sehen, was drinsteckt.«

»Sollten wir nicht besser damit warten, bis ich mit meiner Anatomie durch bin?« sagte Valben. »Dann hätte ich ein klareres Bild von dem, was ich sehe.«

»Aber das ist der beste Anatomie -Unterricht, den es gibt«, sagte sein Vater.

Und dann zog er ihn mit nach drinnen in das Operationszimmer. Auf dem Tisch lag jemand unter einer leichten Decke oder einem Wasserlattich-Tuch. Er zog das Tuch weg. Valben sah eine alte Frau mit grauen Haaren und schlaffen Brüsten, die flach zur Seite hingen, und einen Moment danach wurde ihm klar, daß er die Frau ja kannte, daß er da Bamber Cadrells Mutter anschaute, Samara, die Ehefrau von Marinus. Und natürlich mußte er sie kennen: Es gab auf der Insel nur sechzig Menschen, also wie hätte da einer von ihnen ein Fremder sein können? Aber trotzdem — die Frau von Marinus, die Mutter von Bamber — nackt hier vor ihm auf dem Operationstisch…

»Sie ist heute früh gestorben, sehr plötzlich, fiel einfach in ihrem Vaargh um. Marinus hat sie hergebracht. Höchstwahrscheinlich das Herz, aber ich wollte mich vergewissern, und auch du mußt so was irgendwann mal zum erstenmal sehen.« Sein Vater nahm den Kasten mit den chirurgischen Instrumenten. Dann sagte er leise: »Mir hat meine erste Autopsie auch nicht gefallen. Aber so etwas ist nun einmal nötig, Valben. Du mußt wissen, wie eine Leber aussieht, eine Milz, die Lungen, ein Herz, und du kannst das nicht richtig begreifen, nur indem du darüber nachliest. Du mußt den Unterschied erkennen lernen zwischen gesunden Organen und beschädigten. Außerdem — wir bekommen hier nicht allzu viele Leichen, an denen wir arbeiten könnten. Diese Gelegenheit hier — ich darf sie dich einfach nicht verpassen lassen.«

Er wählte ein Skalpell, demonstrierte Valben, wie man es richtig in die Hand nahm, und machte den ersten Schnitt. Dann legte er nach und nach die Geheimnisse bloß, die der tote Körper von Samara Cadrell noch enthielt.

Anfangs war es schlimm, sehr schlimm.