»Was bist du doch für ein schlauer Hund, Doc«, sagte Delagard.
»Klar. Nur daß ich keine Ahnung hatte, daß so was passieren würde.«
»Du hast es nicht gewußt?«
»Keine Spur. Ich wollte nur versuchen, diese Wucherpflanzen zu vernichten. Ich hatte keine Ahnung, daß da unter ihnen diese Fische leben. Und jetzt hast du mal gesehen, wie zahlreiche grandiose wissenschaftliche Errungenschaften gemacht werden.«
Delagard runzelte die Stirn. »Und wie das?«
»Durch puren Zufall.«
»Ah, ja!« sagte Father Quillan. Und Lawler sah, daß der Priester gerade wieder einmal in der zynisch-zweifelnden Zyklusphase war. Mit spöttischem pseudo-salbungsvollem Ton rief Quillan: »Gottes Wege sind gewunden und voller Rätsel, wenn ER SEINE Wunder wirkt.«
»Ja, wahrlich«, erwiderte Lawler. »So ist es.«
Einige Tage später wurde das Wasser für eine Zeit lang flach und war kaum tiefer als die Bucht von Sorve und höchst klar. Gigantische Korallenkronen wuchsen von einem leuchtend-weißen sandigen Meeresboden herauf, der so nahe zu sein schien, daß man ihn fast glaubte berühren zu können. Manche Korallen waren grün, manche ockergelb, andere — die meisten — von einem dumpfen dunklen Blau, das schon beinahe schwarz war. Die grünen Korallen verzweigten sich zu phantastischen barocken Türmen, die blau-dunkle Variante hatte die Gestalt von Sonnenschirmen und lange ausladende Arme, die ockerfarbenen waren wie große flache Gehörne, weit ausladend und sich immer weiter verzweigend. Es gab auch noch eine große scharlachrote Koralle, die als einzelne Kugelmasse wuchs, die sich lebhaft von dem weißen Sand abhob und die gefurchte Form eines menschlichen Gehirns aufwies.
An einigen Stellen hatten die Korallen sich so üppig vermehrt, daß sie fast bis an die Meeresoberfläche reichten. Um sie herum leckten kleine weiße Katzenkopfwellen. Die Formationen, die länger der Luft ausgesetzt gewesen waren, waren abgestorben und in dem harten Sonnenlicht weißgebleicht, und direkt unter ihnen zeigte sich eine Schicht von sterbenden Korallen, die eine stumpf-braune Färbung annahmen.
»Der Beginn der Entstehung des festen Landes auf Hydros«, bemerkte Father Quillan. »Der Meeresspiegel braucht sich nur ein wenig zu senken, dann ragen alle diese Korallen übers Wasser. Und dann werden sie sich zersetzen und Boden bilden, und samentragende, in der Luft lebende Pflanzen werden sich entwickeln und verbreiten, und auf geht es. Zuerst natürliche Inseln, dann hebt sich der Meeresboden noch ein wenig höher, und wir bekommen Kontinente.«
»Und wie lange, glaubst du, dauert es, bis das passiert?« fragte Delagard.
Quillan zuckte die Achseln. »Dreißig Millionen Jahre. Vielleicht vierzig. Vielleicht noch länger.«
»Dem Himmel sei Dank!« blökte Delagard. »Dann brauchen wir uns ja vorläufig deswegen keine Sorgen zu machen.«
Sorgen machte ihnen allerdings dieses Korallenmeer. Die ockerfarbene Spezies, mit den hornförmigen Spitzen, sah rasiermesserscharf aus, und stellenweise lagen ihre Spitzen nur wenige Meter unter dem Kiel. Es konnte gut andere Meeresbereiche geben, wo noch weniger freies Wasser war. Und wenn dann ein Schiff über diese Messer fuhr, konnte es vom Bug bis zum Heck aufgeschlitzt werden.
Also mußten sie sehr behutsam voranziehen und immer neue sichere Fahrrinnen zwischen den Korallen suchen. Zum erstenmal seit dem Auszug aus Sorve konnten sie nachts nicht durchsegeln. Tagsüber, wenn die Sonne wie ein Leuchtfeuer funkelnde Muster auf den schimmernden weißen Sandboden zeichnete, steuerten die Fahrenden einen behutsamen Zickzackkurs zwischen den Korallenauswüchsen. Und sie starrten staunend zu den unvorstellbar zahlreichen Schwärmen goldschuppiger Fische hinunter, die um die Korallenwälder wimmelten; stumme unendliche Scharen, die durch jede Gasse und jeden Spalt zwischen den Korallen drängten und sich am üppigen Mikroleben des Riffs gütlich taten. Abends ankerten die sechs Schiffe dicht beisammen in einer sicheren Nische und warteten da bis zum nächsten Morgen. Alle kamen an Deck und beugten sich über Bord und grüßten Freunde auf den anderen Schiffen, ja manche unterhielten sich laut schreiend. Es waren die ersten echten Kontakte für viele seit ihrem Aufbruch.
Das nächtliche Schauspiel war womöglich noch bestürzender als das am Tage: Im kühlen Licht des Kreuzes und der drei Monde, wobei Sunrise ein gerüttelt Maß an Brillanz beitrug, erwachten die Korallengeschöpfe zum Leben und tauchten zu Millionen und Abermillionen aus winzigen Cavernen und Schlüpfen im Riff: Lange peitschenförmige Tiere, stellenweise scharlachrot oder zartrosa, schwefeliges Gelb bei dieser Art, ein opakes helles Aquamarin bei einer anderen Spezies… alles entrollte sich, strebte nach draußen, peitschte heftig das Wasser, um die noch winzigeren Lebewesen zu verschlingen, die dort schwebten. Durch die Alleen zwischen den Korallenbänken kamen bestürzende schlangenhafte Geschöpfe, ganz Augen, Zähne und blitzende Schuppen, und glitten geschäftig über den Meeresgrund, wo sie die eleganten Spuren ihrer Bäuchlingsbewegungen im Sand hinterließen. Sie strahlten eine pulsierende grünliche Lumineszenz aus. Und aus Myriaden finsterer Verstecke tauchten die offensichtlichen Könige des Riffs hervor: feistgeschwollene roten Tintenfischen ähnliche Geschöpfe mit plumpen sackartigen Leibern, die durch lange wirbelnde, sich windende Fangarme geschützt wurden ein pulsierendes, abschreckendes blau-weißes Licht ausstrahlten. In der Nacht wurde jede Korallenspitze zum Thron für einen dieser großen Oktopoden: Und da hockte das Tier, schimmerte gemütlich vor sich hin und überwachte sein Reich mit leuchtenden gelbgrünen Augen, die größer waren als eine Männerhand.
Diese riesigen Augen schie nen nur eines zu sagen:
Wir sind hier die Herren, und ihr seid ganz und gar unwichtig. Kommt, schwimmt herab zu uns, damit wir euch einem nützlicheren Zweck zuführen. Und dann öffneten sich scharfe gelbe Schnabelmäuler einladend. Kommt doch herunter zu uns. Kommt! Kommt!
Der Korallenbestand begann dünner zu werden, wurde immer sporadischer und hörte schließlich ganz auf. Der Meeresboden blieb flach und noch eine Weile länger sandig; dann, plötzlich, war der leuchtendweißen Sandboden zu Ende, und das türkisblaue Wasser, das so klar und heiter gewesen war, machte wieder dem undurchsichtigen dunklen Blau der tiefen See Platz, über die leichte kabbelige Wellen liefen.
In Lawler machte sich das Gefühl breit, als ob diese Reise nie ein Ende nehmen werde. Inzwischen war das Schiff nicht nur zu seiner ›Insel‹, sondern zu seiner ganzen Welt geworden. Und er würde einfach hier an Bord weiter und immer so weiter arbeiten. Und die anderen Schiffe fuhren neben dem seinen her wie benachbarte Planeten im Nichts.
Seltsamerweise empfand er dies als völlig richtig. Inzwischen hatte ihn der Rhythmus der Fahrt erfaßt. Er genoß das ständige Schaukeln des Schiffs, nahm die kleinen Entbehrungen auf sich und genoß sogar die gelegentlichen Heimsuchungen durch Ungeheuer. Er hatte sich eingerichtet, sich angepaßt. Aber — wurde er mürbe? Oder war er vielleicht zum Asketen geworden und brauchte eigentlich kaum etwas und kümmerte sich wenig um irdisches Wohlbehagen? So mochte es sein. Er nahm sich vor, Father Quillan bei nächster Gelegenheit dazu zu befragen.