»Oh, wie nett von dir, Nid, wirklich.«
»Halt die Klappe, oder ich stopf sie dir!«
»Das bringt uns nicht weiter«, mischte Lawler sich ein. Dann fragte er Delagard: »Hast du jemals schon so ein Schiff verloren? Das so ganz einfach verschwand, meine ich, ohne S.O.S. und so? Ohne Meldung?«
»Ich hab noch nie ein Schiff verloren — Punkt!«
»Aber die hätten sich doch über Funk gemeldet, wenn sie in Schwierigkeiten gesteckt hätten, ja?«
»Wenn es ihnen möglich gewesen wäre«, sagte Kin-verson.
»Was soll das heißen?« fragte Delagard scharf.
»Mal angenommen, ein ganzer Haufen von diesem Netz-Zeugs kommt nachts an Bord gekrochen. Wachablösung ist um drei Uhr früh, die Leute aus der Takelung kommen runter, die Freiwache kommt rauf an Deck — und sie alle treten in dieses Netzzeug und werden über Bord gezerrt. Und damit ist die halbe Schiffsbesatzung einfach futsch. Damis oder sonstwer kommt während des Massakers aus dem Ruderhaus, um nachzuschauen, was los ist, und das Netz erwischt auch ihn. Und dann die restlichen, einen nach dem anderen…«
»Aber Gospo hat gebrüllt wie ein Irrer, als ihn das Netz erwischte«, warf Pilya Braun ein. »Ihr glaubt doch nicht, daß eine ganze Schiffsbesatzung von diesen Dingern gepackt werden und über Bord gezogen werden kann, ohne daß ein einziger genug Lärm schlagen könnte, um die übrigen zu warnen, was los ist?«
»Dann waren es eben nicht die Netzdinger«, sagte Kinverson. »Sondern was anderes, das an Bord kam. Oder es war das Netz und noch was anderes. Und sie sind alle tot.«
»Und dann kam eins von den Mäulern vorbei und hat auch noch das ganze Schiff verschluckt?« fragte Delagard. »Wo ist das verdammte Schiff, verdammt? Vielleicht sind alle an Bord tot, aber was ist mit dem Schiff passiert?«
»Ein Schiff unter Segeln kann in ein paar Stunden weit abdriften, sogar in einer ruhigen See«, bemerkte Onyos Felk. »Zehn, fünfzehn, zwanzig Kilometer — wer weiß schon? Und fährt immer weiter. Wir würden es nie finden, und wenn wir ’ne Million Jahre danach suchen.«
»Oder es ist gesunken«, sagte Neyana Golghoz. »Irgendwas kam von unten rauf, und es hat ein Loch in den Bauch gebohrt, und dann ist es einfach abgesoffen.«
»Ohne das kleinste Notsignal?« fragte Delagard. »Schiffe sinken nicht innerhalb von zwei Minuten. Irgendwer würde genug Zeit gehabt haben, uns zu rufen.«
»Was weiß denn ich?« sagte Neyana. »Sagen wir, es sind fünfzig Dinger von unten raufgekommen und haben Löcher gebohrt. Und dann war das Schiff plötzlich voller Löcher. Und dann wäre es nämlich schneller gesunken, als du einen Furz lassen kannst. Es sinkt einfach, schwupp, und keiner hat mehr Zeit, was zu tun. Ich weiß ja nicht, ich mein ja mal nur so.«
»Wer war an Bord der Golden Sun?« fragte Lawler.
Delagard zählte an seinen Fingern ab. »Damis und Dana und ihr kleiner Junge. Sidero Volkin. Die Sweyners. Das macht sechs.«
Jeder Name sauste nieder wie ein Beil. Lawler dachte an den knorrigen alten Werkzeugmacher und an seine verhutzelte alte Frau. Wie geschickt Sweyner mit seinen Händen immer war, und wie gekonnt er das beschränkte Material einsetzte, das ihnen auf Hydros zur Verfügung stand. Und Volkin, der Schiffszimmerer, der zähe, hart schuftende Mann. Und Damis. Dana.
»Wer sonst noch?«
»Laß mich nachdenken. Irgendwo muß ich die Liste haben. Aber laß mich nachdenken. Die Hains? Nein, die sind mit Yanez auf der Three Moons. Aber Freddo Wong war mit an Bord und sein Weib — wie hieß die doch noch, verdammtnochmal…?«
»Lucia«, sagte Lis.
»Stimmt, Lucia. Freddo und Lucia Wong, und dann noch dieses Mädchen mit den hübschen Titten. Richtig, Berylda. Und der kleine Bruder von Martin Yanez, glaub ich. Ja. Doch, ja.«
»Jose«, sagte jemand.
»Genau, Jose.«
Lawler spürte einen wütenden Schmerz. Dieser hochgescheite lernbegierige Junge. Der eines Tages der neue Doktor sein und die Last des Heilers von Lawlers Schultern nehmen sollte.
Dann hörte er eine Stimme: »Also, das macht zehn. Aber wieviel waren die denn? Vierzehn an Bord? Also fehlen uns noch vier Namen.«
Von allen Seiten kamen Namensvorschläge. Es war wirklich nicht leicht, sich zu erinnern, wer auf welchem Schiff gesegelt war, so viele Wochen nach dem Aufbruch von Sorve. Aber es mußten vierzehn Menschen an Bord der Golden Sun in See gestochen sein, darüber war man sich allgemein einig.
Vierzehn Tote, dachte Lawler. Die Größe dieses Verlusts ließ ihn schwindeln. Er fühlte den Schock bis in die Knochen. Er kam sich persönlich beraubt vor. Diese Menschen hatten teilgehabt an seinem Leben, an seiner Vergangenheit. Und sollten fort sein? Dahin, verschwunden, ohne ein Wort der Warnung, für immer? Fast ein Fünftel der Humanbevölkerung — auf einen Schlag ausgelöscht. Auf Sorve hatten sie in einem bösen Jahr vielleicht zwei oder drei Todesfälle. In den meisten Jahren nur einen. Und nun vierzehn Tote auf einmal. Das Verschwinden der Golden Sun hatte ein tiefes, schmerzliches Loch in ihre Gemeinschaft gerissen. Aber war denn diese Gemeinschaft nicht bereits zerstört? Würde es ihnen auf Grayvard etwas wieder aufzubauen gelingen, was sie gezwungenermaßen auf Sorve hatten zurücklassen müssen?
Ach, Jsoc. Und die Sawtelles. Die Sweyners. Die Wongs. Volkin. Berylda Cray. Und vier weitere.
Lawler verließ die anderen, die auf der Brücke immer weiter diskutierten, und ging unter Deck. Kaum war er in seiner Kabine, griff er nach der Taubkrautflasche. Acht Tropfen, neun, zehn, elf… ach, gönnen wir uns diesmal ein Dutzend? Ja. Ja, ein Dutzend. Und zum Teufel! Die doppelte Dosis… das würde allem den schmerzenden Stachel nehmen.
»Val?« Die Stimme Sundiras an seiner Kabinentür. »Ist alles okay?«
Er ließ sie eintreten. Ihre Augen streiften das Glas in seiner Hand und wanderten dann wieder zu seinem Gesicht zurück.
»Himmel, du leidest ja wirklich drunter.«
»Als hätte man mir ein paar Finger abgehackt.«
»Haben sie dir dermaßen viel bedeutet?«
»Einige schon.« Das Taubkrautelixier begann zu wirken. Er spürte, wie der scharfe Schmerz dumpfer wurde. Seine eigene Stimme kam ihm pelzig vor. »Die anderen waren nur Menschen, die ich kannte, Teil des Insel-Ambiente, gute altvertraute Gesichter. Einer war mein Schüler.«
»Jose Yanez.«
»Du hast ihn gekannt?«
Sie lächelte traurig. »Ein bezaubernder Junge. Einmal, ich war schwimmen, und er kam auch ins Wasser, und dann redeten wir ein bißchen. Meistens über dich. Er hat dich richtig angebetet, Val. Mehr noch sogar als seinen Bruder, den Seefahrer.« Dann flog ein Schatten über Sundiras Gesicht. »Ich mach die Sache für dich nur schlimmer, nicht besser.«
»Nein — nicht wirklich.«
Inzwischen war seine Zunge schwer und dick geworden, und er begriff, er hatte sich eine zu hohe Dosis verabreicht.
Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und stellte es beiseite.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte, ich könnte dir helfen.«
Dann komm doch, näher, ganz nah, wollte er sagen, und konnte es irgendwie nicht.
Aber sie schien ihn auch so verstanden zu haben.
Zwei Tage lang ankerte die Flottille mitten im Nirgendwo, während Delagard Dag Tharp im Nacken hing, damit der sämtliche Funkfrequenzen durchcheckte, um die Golden Sun zu orten. Er bekam Funkstationen auf einem halben Dutzend Inseln herein, er fing die Funksignale eines Schiffes namens Empress of Sunrise auf, das im Fährverkehr im Azur-Meer verkehrte, und eine schwimmende Bergwerksstation weit droben im Nordosten, deren Existenz alle überraschte und für Delagard nicht gerade eine erfreuliche Nachricht war. Doch von der Golden Sun fing Tharp nicht das kleinste Flüstern auf.