Lawler starrte auf den Quadranten, den Felk vor ihn gedreht hatte. Er sah die kleine Sichelgestalt, die Hygala darstellte; aber westlich und südlich davon sah er nur Nichts und Leere, Leere und noch mehr Leere, und dann — weit um die Krümmung des kleinen Globus herum — entdeckte er den dunklen Fleck, der als ›Geist über den Wassern‹ bekannt war.
»Du denkst, Delagard hat bei der Berechnung unseres Kurses einen Fehler gemacht?«
»Auf so eine Idee würde ich erst ganz zuletzt kommen. Die Delagards befahren mit ihren Schiffen diesen Planeten, seit er noch Strafkolonie war. Das weißt du doch. Der würde ebensowenig den Fehler machen und uns auf Südwestkurs setzen, wenn er nach Nordwest will, wie du bei der Unterschrift Lawler falsch buchstabieren würdest.«
Lawler legte die Daumen an die Schläfen und drückte lange fest zu.
»Aber warum sollte Nid uns in die Leere See bringen wollen, um Himmels willen?«
»Ich hab mir gedacht, daß du ihn genau das vielleicht mal fragst.«
»Ich?«
»Manchmal sieht es so aus, wie wenn er fast ein biß chen Achtung vor dir hätte«, sagte Felk: »Möglich, daß er dir sogar ’ne ehrliche Antwort gibt — oder auch nicht. Aber mir würde er verdammt noch mal gar nichts sagen. Klar? Das ist doch wohl klar, Doc?«
Kinverson war mit seinen Haken und Taljen für den täglichen Fischzug beschäftigt, als Lawler ihn am selben Morgen wenig später aufsuchte. Mürrisch blickte er auf und sah Lawler mit jener absoluten Gleichgültigkeit an, die der von einer Insel, einem Entermesser, einem Gillie erwartet hätte. Dann wandte er sich wieder seiner Tätigkeit zu.
»Also sind wir vom Kurs ab. Das hab ich gewußt. Was macht mir das schon aus, Doc?«
»Du hast es gewußt?«
»Das sieht mir hier nicht nach nördlichen Gewässern aus.«
»Du hast die ganze Zeit gewußt, daß wir auf die Leere See zusegeln? Und du hast keinem ein Wort davon gesagt?«
»Ich weiß, daß wir vom Kurs ab sind, aber das bedeutet nicht zwangsläufig, daß ich weiß, wir fahren ins Leere Meer.«
»Felk sagt es. Er hat es mir auf seiner Karte gezeigt.«
»Aber Felk hat nicht immer recht, Doc.«
»Angenommen diesmal schon?«
»Nun, dann steuern wir auf die Leere zu«, sagte Kinverson ruhig. »Na und?«
»Statt nach Grayvard.«
»Na und?« wiederholte Kinverson. Er nahm einen Angelhaken, betrachtete ihn, nahm ihn zwischen die Zähne und bog ihn anders zurecht.
Das Gespräch führte zu nichts. »Macht es dir denn überhaupt nichts aus, daß wir in die falsche Richtung fahren?«
»Nein. Wieso, verdammt, sollte mir das was ausmachen? Eine stinkige Insel ist genau wie die andere. Mir ist es schietegal, wo wir am Ende ankommen und siedeln.«
»Aber es gibt keine Inseln in der Leeren See, Gabe!«
»Dann leben wir halt weiter auf dem Schiff. Was macht das schon? Ich kann im Leeren Meer prima leben. Es ist nicht leer von Fischen, Doc, oder? Viele soll’s ja nicht grad geben, aber wenn es dort Wasser gibt, dann gibt es immerhin einige. Und wenn es an einem Ort Fische gibt, dann kann ich dort leben. Ich hätte in meinem alten kleinen Kahn leben und überleben können, wenn es nötig geworden wäre.«
»Und wieso bist du nicht in deinem alten kleinen Kahn weiterhin geblieben?« fragte Lawler, der allmählich ärgerlich wurde.
»Weil ich zufällig grad bei euch auf Sorve lebte. Aber ich könnte genauso leicht auch in meinem Boot überleben. Meinst du wirklich, eure Inseln sind so was verdammt Wundervolles. Doc? Ihr latscht auf harten Holzbrettern herum, die ganze Zeit, und die ganze Zeit freßt ihr Tang und Fisch, und es ist zu heiß, wenn die Sonne scheint, und zu kalt, wenn es regnet, und das nennt ihr Leben. Jedenfalls ist das die Art Leben, die wir haben. Nicht besonders viel. Deshalb ist es mir ziemlich egal, ob das auf Sorve oder Salimil stattfindet, oder in einer Kabine auf der Queen of Hydros — oder in einem verdammten kleinen Ruderboot. Ich will bloß was zu essen haben, wenn ich hungrig bin, und ich will ficken, wenn ich fickerig bin, und am Leben bleiben, bis ich sterbe, klar?«
Es war vielleicht die längste Rede, die Kinverson je von sich gegeben hatte. Er wirkte über sich selbst ganz erstaunt, daß er soviel gesagt hatte. Als er fertig war, starrte er Lawler einen Augenblick lang in sichtlichem Ärger und verwirrt kalt an. Dann wandte er sich erneut seinem Fanggerät zu.
Lawler fragte: »Es stört dich also gar nicht, daß unser großer Führer uns direkt ins Unbekannte führt und daß er sich nicht mal die Mühe macht, uns davon zu unterrichten, was er damit bezweckt?«
»Nein. Das stört mich gar nicht. Mich stört eigentlich kaum was — außer Leuten, die mir auf den Nerv gehen. Ich lebe jeden Tag und von Tag zu Tag. Laß mich in Frieden, Doc. Ich habe zu tun. Okay?«
Dag Tharp sagte: »Willst du jetzt schon deine Anrufe machen? Du bist ’ne Stunde zu früh dran, Doc, weißt du?«
»Möglich. Macht das was?«
»Wie du willst.« Tharps Hände glitten über die Schaltscheiben und Knöpfe. »Wenn du so früh anrufen willst, dann ist es mir recht. Aber gib nicht mir die Schuld, wenn da draußen keiner auf dich vorbereitet ist.«
»Hol mir zuerst mal Bamber Cadrell rein.«
»Sonst rufst du aber immer die Star zuerst.«
»Weiß ich. Ruf mir heute Cadrell zuerst.«
Tharp blickte verwirrt auf. »Hast du ’nen Zitteraal im Arsch, heut morgen, Doc?«
»Wenn du hörst, was ich Cadrell zu sagen hab, dann wirst du schon merken, was mich stört. Und jetzt ruf ihn endlich an, ja?«
»Schon gut. Gleich. Sofort.« Von der Funkkonsole ertönte Schnarren und Klicken. »Dieser verflixte Nebel«, brummte Tharp. »Es issen Wunder, daß mir nicht der ganze Kram hier verrottet. Meldet euch, Goddess! Meldet euch, Goddess! Hier ruft die Queen. Goddess? Goddess, meldet euch.«
»Queen, hier die Goddess«, ertönte eine Knabenstimme, quäkend und hell. Auf der Sorve Goddess war Bard, Nicko Thalheims Sohn, der Funker.
»Sag ihm, ich will mit Cadrell sprechen«, erklärte Lawler.
Tharp sprach ins Mikrophon. Die blecherne Antwort konnte Lawler nicht genau verstehen.
»Wie war das?«
»Er sagt, Bamber ist am Ruder. Seine Wache läuft noch zwei Stunden.«
»Sag ihm, er soll Bamber sofort vom Ruder ans Horn holen. Es duldet keinen Aufschub.«
Weiteres Spucken und Klicken. Anscheinend machte der Junge Einwände. Tharp wiederholte Lawlers Verlangen, und danach herrschte auf der anderen Seite eine Minute lang Stille.
Schließlich war die Stimme von Bamber Cadrell zu hören: »Was ist denn bloß so verdammt wichtig, Doc?«
»Schick den Jungen weg, dann sag ich’s dir.«
»Er ist mein Funker.«
»Schön und gut, aber ich will nicht, daß er hört, was ich dir sagen werde.«
»Probleme, was?«
»Ist der Kleine noch da?«
»Ich hab ihn rausgeschickt. Was ist los, Doc?«
»Wir liegen neunzig Grad vom Kurs ab, in äquatorialen Gewässern und fahren nach Süd-Südwest. Delagard steuert uns direkt ins Leere Meer.« Neben Lawler hatte Dag mitgehört und holte jetzt scharf und verblüfft Luft. »Hast du das gemerkt, Bamber?«
Und wieder ein langes Schweigen von der Sorve Goddess.
»Selbstverständlich hab ich das, Doc. Für was für ’nen miserablen Nautiker hältst du mich denn?«