»Aber meine Schiffe…«
»Nichts.«
»Meine Schiffe, Dag!«
Delagards Augen rollten wild. Er stürzte vorwärts, als wollte er Tharp bei den Schultern packen und bessere Nachrichten aus ihm herausschütteln. Kinverson tauchte aus dem Nichts auf und trat zwischen die beiden. Er hielt Delagard zurück, der zitterte und auf den Beinen schwankte.
»Geh wieder runter!« befahl Delagard dem Funker. »Versuch es weiter!«
»Das hat keinen Zweck«, sagte Tharp.
»Meine Schiffe! Meine Schiffe!« Delagard fuhr auf dem Absatz herum und rannte an die Reling. Einen Moment lang fürchtete Lawler, er werde sich über Bord stürzen. Doch er wollte nur auf irgend etwas einschlagen. Er machte Keulen aus seinen Fäusten und schmetterte sie wieder und wieder auf die Reling, und das mit einer dermaßen verblüffenden Kraft, daß das Geländer sich bog, einknickte und unter der Wucht seiner Schläge brach. »Meine Schiffe!« winselte Delagard.
Auch Lawler merkte, daß er zu zittern begonnen hatte. Die Schiffe, ja. Und alle, die auf ihnen waren. Er wandte sich Sundira zu und sah in ihren Augen, daß sie mit ihm litt. Sie wußte, welchen Schmerz er fühlte. Doch wie konnte sie das wirklich mitfühlen? Für sie waren diese Menschen allesamt Fremde gewesen. Für ihn bedeuteten sie seine ganze Vergangenheit, die Substanz seines ganzen Lebens, im guten wie im schlimmsten Sinne. Nicko Thalheim, Sandor, Nickos alter Vater, Bamber Cadrell, die Sweyners, die Tanaminds, Brondo, diese armen verrückten Schwestern, Volkin, Yanez, Stayvol, alle, jeder einzelne von ihnen, die er gekannt hatte, alles, seine Kindheit, die Jugendzeit, seine Mannesjahre, die Garanten gemeinsamer Erinnerungen aus einem ganzen Leben… allesamt und alles auf einmal fort und ihm entrissen. Wie sollte Sundira das begreifen? War sie je Teil einer über lange Zeit hin gewachsenen Gemeinschaft gewesen? Hatte sie so etwas ja erlebt? Sie hatte ihre Geburtsinsel verlassen, ohne weiter noch einen Gedanken an sie zu verschwenden, und war dann von Ort zu Ort gewandert, ohne je zurückzuschauen. Niemand kann nachvollziehen, wie es ist, etwas zu verlieren, das man selbst nie gehabt hat.
»Val…« Sie sagte es ganz leise.
»Laß mich in Ruhe. Bitte!«
»Wenn ich dir doch nur irgendwie helfen könnte…«
»Aber das kannst du nicht.«
Und dann senkte sich Dunkelheit über sie. Das Kreuz begann am Himmel aufzuziehen, aber es hing merkwürdig schief, schräg von Südwest nach Nordost. Es ging kein Wind. Die Queen of Hydros dümpelte träge auf der stillen See. Sie waren alle noch immer auf Deck. Keiner hatte sich die Mühe gemacht, wieder Segel zu setzen, obwohl es schon Stunden her war, daß die WOGE davongezogen war. Doch das spielte in dieser Reglosigkeit, in dieser Flaute kaum eine Rolle.
Delagard wandte sich an Onyos Felk und fragte mit tonloser Stimme: »Was meinst du, wo wir sind?«
»Grob geschätzt, oder willst du, daß ich meine Instrumente hole?«
»Bloß deine Vermutung, Onyos, verdammt noch mal!«
»Im Meer der Leere.«
»Darauf bin ich auch selber schon gekommen. Gib mir eine Gradbestimmung!«
»Denkst du, ich bin ein Zauberer, Nid?«
»Ich denke, daß du ein vernagelter Arsch bist. Aber du kannst mir doch wenigstens eine Längenposition bestimmen. Schau dir das beschissene Kreuz an!«
»Ich seh das beschissene Kreuz«, sagte Felk giftig. »Und es sagt mir, daß wir südlich vom Äquator stehen, und ziemlich viel tiefer westlich als bevor die WOGE uns erwischt hat. Wenn du’s genauer haben willst, dann laß mich runtergehen und versuchen, meine Instrumente zu finden.«
»Viel weiter westlich?« fragte Delagard.
»Ja, ziemlich. Ein dickes Stück weit. Da haben wir wirklich mal tolle Fahrt gemacht.«
»Also geh und such deine Instrumente.«
Als Felk nach längerem Suchen in dem Chaos unter Deck mit seinem Handwerkszeug wieder auftauchte, sah Lawler, ohne viel zu begreifen, zu, was er mit den ungeschlachten, grobkonstruierten Navigationsinstrumenten anstellte, die wahrscheinlich einem Seefahrer des 16. Jahrhunderts auf der ERDE nur ein verächtliches Lachen abgenötigt hätten. Felk arbeitete ruhig, brummte nur ab und zu vor sich hin, während er das Kreuz anpeilte, überlegte, erneut visierte und überlegte. Nach einer Weile blickte er zu Delagard auf und sagte: »Wir sind noch weiter westlich, als mir angenehm ist.«
»Und unsere Position?«
Felk sagte es ihm. Delagard wirkte überrascht. Er stieg seinerseits unter Deck, blieb lange dort und tauchte schließlich mit seinem Globus wieder auf. Lawler trat zu ihm, als Delagard mit dem Finger die Längengrade entlangzufahren begann. »Aha. Da. Da.«
Sundira fragte: »Kannst du erkennen, wohin er zeigt?«
»Wir sind mitten im Herzen des Leeren Meeres. Wir liegen fast in gleicher Distanz zu diesem ›Antlitz‹ wie zu den bewohnten Inseln hinter uns. Wir sind mitten im Nirgendwo, ganz klar, und wir sind ganz allein hier.«
2
Dahin war nun jegliche Hoffnung darauf, eine Versammlung der Schiffe einzuberufen, um den geballten Gemeinschaftswillen der Sorve- Kolonie gegen Delagard ins Spiel zu bringen. Die gesamte Sorve- Gemeinschaft war auf genau dreizehn Personen zusammengeschrumpft. Inzwischen wußten alle auf dem einzigen geretteten Schiff, wohin die Reise wirklich gehen sollte. Manchen — wie Kinverson oder Gharkid — schien dies nichts auszumachen; für Männer wie sie war ein Ziel so gut wie ein anderes. Aber andere — Neyana, Pilya, Lis -würden kaum bereit sein, gegen irgend etwas zu opponieren, was Delagard beabsichtigte, und sei es noch so abwegig. Und wenigstens einer, Father Quillan, war Delagards geschworener Weggenosse auf der Suche nach diesem Land über den Wassern.
Damit blieben noch Dag Tharp und Dann Henders, Leo Martello, Sundira, Onyos Felk. Onyos verabscheute Delagard. Gut, einer für meine Seite, sagte sich Lawler. Und Tharp und Henders, die hatten mit Delagard bereits Knatsch gehabt wegen der Zielrichtung; sie würden auch vor weiteren Auseinandersetzungen nicht zurückschrecken. Martello hingegen war ein Delagardist, und Lawler war nicht sicher, wie er sich bei einem Entscheidungskampf mit dem. Reeder verhalten würde. Sogar Sundira war eine unbekannte Größe. Lawler hatte kein Recht zu erwarten, daß sie sich auf seine Seite schlagen werde, wie eng auch ihre Beziehungen inzwischen zu werden schienen. Vielleicht war sie sogar neugierig auf dieses neue Land und wartete begierig darauf, zu erfahren, worum es sich dabei wirklich handelte. Schließlich hatte sie sich ja als Beruf die Erforschung der Welt der Kiemlinge gewählt.
Also blieben vier gegen den Rest, oder bestenfalls sechs. Nicht einmal die Hälfte der Besatzung. Es wird nicht reichen, dachte Lawler.
Mehr und mehr verstärkte sich seine Überzeugung, daß es ein vergeblicher Versuch sein würde, Delagard unter Kontrolle zu bringen. Der Mann war dazu einfach eine zu bedeutende Größe. Fast so etwas wie die WOGE: Es paßte einem zwar nicht, wohin sie einen schleppte, aber man konnte nicht viel dagegen unternehmen. Wirklich nicht.
Im Gefolge der Katastrophe schwirrte Delagard mit scheinbar unerschöpflicher Energie auf Deck umher, um das Schiff für die Fortsetzung der Reise wieder tauglich zu machen. Die Masten wurden ausgebessert, die Segel gehißt. Und wenn Delagard schon früher voller Antrieb und Zielstrebigkeit war, so wirkte er jetzt geradezu wie von Dämonen besessen, wie eine erbarmungslose Naturgewalt. Ja, dachte Lawler, der Vergleich mit der WOGE scheint wirklich passend. Der Verlust seiner kostbaren Schiffe schien Delagard über eine Willensschwelle hinaus und in einen ganz neuen Bereich von zielstrebigem Aktionismus getrieben zu haben. Voller Wut und wechselnder Launen, geradezu knisternd vor Energieüberladung, fungierte er jetzt als Zentrum in einem kinetischen Energiewirbel, der es nahezu unmöglich machte, ihn anzusprechen. Mach das! Du machst das da! Bring das in Ordnung! Schaff das da weg! Es blieb einfach um ihn kein Raum, als daß einer (wie Lawler) da hätte ankommen und sagen können: »Wir werden es dir nicht erlauben, Nid, das Schiff dahin zu führen, wohin du willst!«