Am Morgen nach der WOGE hatte Lis Nikiaus frische Prellungen und Platzwunden im Gesicht. »Ich hab gar nichts zu ihm gesagt«, erzählte sie Lawler, während dieser den Schaden zu beheben versuchte. »Er ist einfach ausgerastet und wild geworden, sobald wir in der Kabine waren, ging auf mich los und hat mich geschlagen.«
»Ist so was früher schon passiert?«
»So wie jetzt? Nein. Jetzt ist er wirklich verrückt geworden. Vielleicht hat er auch Angst gehabt, daß ich was sagen könnte, was ihm nicht paßt. Aber er, er kann an nichts anderes denken als an dieses ›Antlitz‹, dieses Land-über-den-Wassern. Er redet sogar im Schlaf davon. Er verhandelt über Abmachungen, bedroht Konkurrenten, verspricht Wunder — ach, ich weiß nicht, was sonst noch.« Stämmig, groß, ein Vollweib, wirkte Lis auf einmal ganz in sich zusammengefallen und schwächlich, als würde Delagard ihre Lebenskraft aus ihr in sich herübersaugen. »Je länger ich mit dem zusammen bin, desto mehr macht er mir Angst. Da denkst du, der ist ja bloß ein reicher Reeder, der hat nichts weiter im Sinn als Fressen und Saufen und Ficken und wie er noch reicher werden kann, weiß der Himmel, wozu. Und dann, ganz selten mal, erlaubt er dir, ein bißchen tiefer in ihn hineinzuschauen, und dann siehst du die Teufel.«
»Teufel?«
»Ja. Teufel, Visionen, Wahnvorstellungen, Wunschträume. Ich weiß nicht. Er glaubt, daß diese große Insel da ihn zu einem Herrscher machen wird, oder so was, oder vielleicht zu einem Gott… daß ihm alle anderen Untertan und gehorsam sein werden, nicht nur wir hier, sondern auch die anderen Leute auf den Inseln und auch die Gillies. Und Leute auf anderen Welten: Hast du gewußt, daß er vorhat, einen Raumflughafen zu bauen?«
»Ja. Er hat es mir selbst erzählt«, sagte Lawler. »Und er wird es auch schaffen! Er bekommt immer, was er haben will, dieser Mann. Er gönnt sich und niemand Ruhe, er gibt nie auf. Der denkt noch im Schlaf. Ich mein das ganz ernst.« Lis betastete vorsichtig eine blaurote Stelle zwischen ihrem Wangenbein und dem linken Auge. »Meinst du wirklich, du kannst versuchen und ihn bremsen?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Sei vorsichtig. Er bringt dich um, wenn du dich ihm in den Weg stellst. Sogar dich, Doc. Er würde dich töten, wie er einen Fisch tötet.«
Das leere Meer schien ein treffender Name zu sein. Es war leer und gestaltlos, ohne Inseln, ohne Korallenriffe, ohne Stürme und kaum je ein Wölkchen am Himmel. Die heiße Sonne schüttete lange orangehelle Lichtbahnen über die matte, glasig-blaugraue Dünung. Der Horizont schien eine Million Kilometer weit in der Ferne zu liegen. Der Wind wehte schlaff und unstet. Höhere Dünung kam nun nur noch selten auf und war unbedeutend, kaum mehr als eine Kräuselung auf der Fläche des Wassers. Das Schiff durchschnitt sie mühelos.
Aber es gab hier auch wenig maritime Lebensformen. Kinverson warf seine Treibangeln und -netze vergeblich aus; Gharkid holte in seinen Netzen kaum irgendwelche brauchbaren Tanggewächse herauf. Hin und wieder zog ein Schwarm glitzernder Fische vorbei, oder man sah in der Ferne sich größere Meeresgeschöpfe tummeln, doch selten genug kam etwas nahe genug an das Schiff heran und ließ sich fangen. Die an Bord vorhandenen Vorräte — getrockneter Tang und Fisch — nahmen rapide ab. Delagard befahl die Kürzung der Tagesrationen. Es sah so aus, als werde die weitere Reise zu einem Hungertrip werden. Und eine Durststrecke noch dazu. Während des grandiosen Wolkenbruchs kurz vor dem Erscheinen der WOGE war nicht genug Zeit geblieben, die gewöhnlichen Auffangbehältnisse aufzustellen. Und so sank der Wasserspiegel in den Fässern nun unter diesem heiteren wolkenleeren Himmel von Tag zu Tag drastischer.
Lawler bat Onyos Felk, ihm auf der Karte zu zeigen, wo sie sich befanden. Der Kartograph äußerte sich vage wie gewöhnlich über seine Geographie, zeigte aber schließlich auf einen Punkt weit draußen im Leeren Meer zwischen Äquator und der vermuteten Position des Landes über den Wassern.
»Kann das korrekt sein?« fragte Lawler. »Ist es wirklich möglich, daß wir so weit gekommen sind?«
»Die WOGE raste mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin und hat uns den ganzen Tag lang mitgetragen. Das wirkliche Wunder ist, daß das Schiff dabei nicht einfach zerspellt ist.«
Lawler betrachtete die Karte. »Wir sind zu weit, als daß wir noch umkehren könnten, wie?«
»Wer spricht denn von Umkehren? Du? Ich? Delagard ganz bestimmt nicht!«
»Wenn wir es wollten«, sagte Lawler. »Nur so, falls.«
»Wir wären besser dran, wenn wir einfach so weiterfahren«, sagte Felk düster. »Aber eigentlich bleibt uns auch gar keine andere Möglichkeit. Da liegt diese ganze Leere hinter uns. Wenn wir wenden und in bekannte Gewässer zurückzufahren versuchen, sind wir wahrscheinlich verhungert, bevor wir an einen Ort kommen, wo es was gibt. Das Feste Land über dem Wasser zu finden, das ist so ziemlich die einzige Chance, die wir noch haben. Dort gibt es vielleicht was zu essen und Trinkwasser.«
»Meinst du?«
»Was weiß denn ich?« sagte Felk.
Leo martello sagte: »Hast du ’ne Minute Zeit für mich, Doc? Ich möchte dir was zeigen.«
Lawler war in seiner Kabine und sortierte seine Papiere. Er hatte drei Kästen mit Krankengeschichten für vierundsechzig ehemalige Sorve- Bürger, die vermutlich auf See zugrundegegangen waren. Lawler hatte erbittert mit Delagard darum gestritten, diese Unterlagen mitnehmen zu dürfen, als sie von der Insel aufgebrochen waren, und dieses eine Mal hatte er gewonnen. Und nun? Sie weiter aufbewahren? Wozu? In der vagen Hoffnung, daß es eine Chance gab, daß die fünf verschwundenen Schiffe wieder auftauchen könnten, alle Mann gesund an Bord? Sie bewahren, damit irgendein künftiger Inselhistoriker sie auswerten könne?
Martello kam der Funktion eines Inselhistorikers noch am nächsten von allen. Vielleicht würde er diese jetzt nutzlosen Dokumente gern in die späteren ›Cantos‹ seines epischen Werks einarbeiten wollen.
»Was gibt’s denn, Leo?«
»Ich habe über die WOGE geschrieben«, sagte Martello. »Was uns geschehen ist, wo wir jetzt sind, wohin wir vielleicht gehen. Über all dies. Ich dachte mir, du möchtest vielleicht lesen, was wir bisher getan haben.«
Sein Grinsen war einladend. Die feuchten braunen Augen blitzten vor Aufregung. Lawler begriff, daß Martello maßlos stolz war auf sich und nach Beifall hungerte. Er beneidete ihn ein wenig um diesen Überschwang, diese Offenheit, diesen ungebremsten Enthusiasmus. Hier, inmitten dieser verzweifelten Reise ins wahrscheinliche Verderben, war der Junge fähig, Worte zu finden und zu Poesie zu machen. Es war erstaunlich!
»Bist du damit nicht ein bißchen vorschnell?« fragte er Martello. »Beim letztenmal warst du, glaub ich, gerade bis zur Emigration von der ERDE und zur Kolonisation der erste Sternwelten gekommen.«
»Genau. Aber ich denk mir, ich komme irgendwann in meinem Gedicht an den Punkt, wo ich von unserem Leben auf Hydros berichten muß, und diese Reise hier wird dabei eine bedeutende Rolle spielen. Also habe ich mir gedacht, warum soll ich das nicht gleich jetzt niederschreiben, wo alles noch frisch in meinem Kopf ist, anstatt zu warten, bis ich so in vierzig, fünfzig Jahren ein alter Mann bin?«
Ja, warum eigentlich? dachte Lawle r.
Während der letzten Wochen hatte Leo das Haar auf seinem kahlgeschorenen Schädel wachsen lassen; da war inzwischen kräftiges braunes Haar nachgesprossen. Er sah damit zehn Jahre jünger aus. Martello würde wahrscheinlich noch fünfzig Jahre länger leben (sofern irgend jemand auf diesem Schiff überhaupt überlebte). Vielleicht sogar siebzig weitere Jahre. Viel Zeit, um Gedichte zu schreiben. Doch ja, es war vielleicht richtig, daß er seine dichterischen Eindrücke gleich schriftlich festhielt.