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Delagard dagegen fraß seine ganze Portion auf und verlangte nach mehr.

»Sag bloß, du magst dieses Zeug?« fragte Lawler.

»Der Mensch muß essen, oder? Ein Mann muß bei Kräften bleiben, Doc. Oder bist du anderer Meinung? Protein ist Protein. Oder, was sagst du, Doc? Da, iß doch auch noch was.«

»Nein, danke«, knurrte Lawler. »Ich werd versuchen, ohne solches Zeug über die Runden zu kommen.«

* * *

An Sundira fiel ihm eine Verwandlung auf. Die Änderung der Ziel- und Zweckbestimmung ihrer Seefahrt schien sie von irgendeiner selbstauferlegten Zurückhaltung im Intimbereich befreit zu haben; ihr Liebesspiel war nicht länger gekennzeichnet von langen Perioden eines stachligen Schweigens zwischen Ausbrüchen von seichtem Geschwätz. Wenn sie nun in der dunklen, moderduftenden Ecke im Frachtdeck beisammen lagen die sie zu ihrem Lieblings-Liebesnest erkoren hatten öffnete sie sich ihm nun auch überraschend seelisch in heftigen autobiographischen Monologen.

»Ich war schon als kleines Mädchen immer sehr neugierig. Viel zu neugierig, als gut für mich war, glaub ich. Andauernd watete ich in der Bucht herum, sammelte alles mögliche Zeug im Flachwasser, wurde gekniffen und gebissen. Als ich so an die vier war, hab ich mir einen kleinen Krebs da unten in mein Schlitzchen gesteckt.« Sie lachte, als Lawler entsetzt aufstöhnte »Ich weiß nicht mehr, ob ich herausfinden wollte, was mit der Krabbe passieren würde, oder was mit meiner Schlitzchen. Dem Tier machte es anscheinend wenig aus. Meinen Eltern schon.«

Ihr Vater war der ›Bürgermeister‹ auf der Insel Khamsilaine gewesen, was anscheinend eine Art Regierungschef bei den Insulanern des Azurmeeres darstellte. Die Humankolonie auf Khamsilaine war recht groß, an die fünfhundert Personen. Für Lawlers Begriffe war das eine enorme Zahl und eine unvorstellbar komplexe Masse von Individualitäten. Über ihre Mutter äußerte Sundira sich nur vage: irgendwie war sie eine Gelehrte, vielleicht Historikerin, mit der Erforschung der Galaktischen Migrationsstadien der Humanspezies, doch sie war sehr früh gestorben, und Sundira konnte sich kaum noch an sie erinnern. Anscheinend aber hatte sie einiges vom suchenden Geist ihrer Mutter geerbt. Ganz besonders faszinierten sie die Kiemlinge, die Gillies — die Sassen, wie sie nie müde wurde, sie korrekt zu bezeichnen, obwohl Lawler diesen formellen Terminus etwas altmodisch und bombastisch fand. Mit vierzehn Jahren hatte sie mit einem älteren Jungen zusammen begonnen, die Gillies auf Khamsilaine bei ihren Geheimzeremonien zu belauschen. Sie hatten auch selbst ein bißchen sexuell herumexperimentiert, Sundiras erste Erfahrungen, wie sie beiläufig zu Lawler sagte, der zu seinem eigenen Erstaunen diesen Jungen bitterlich beneidete. Ein derart berückendes Geschöpf wie Sundira lieben zu dürfen, in so jungen Jahren? Was für ein himmlisches Privileg das gewesen wäre! Gewiß, auch in seinen Jungmännerjahren hatte es nicht an Mädchen gemangelt, eher im Gegenteil, wann immer er es irgendwie arrangieren konnte, sich von den Medizinstudien wegzustehlen, die ihn im Vaargh seines Vaters festhielten. Allerdings war es nicht gerade ihr suchender forschender Geist gewesen, der ihn zu diesen Mädchen hingezogen hatte. Er fragte sich flüchtig, wie wohl sein Leben verlaufen wäre, wenn es damals, in seiner Jugend, auf Sorve eine Sundira gegeben hätte. Wenn er sie geheiratet hätte, statt Mireyl? Es war eine bestürzende hypothetische Vorstellung: Jahre und Jahrzehnte in enger Partnerschaft mit dieser außergewöhnlichen Frau, anstatt des einsamen Außenseiterlebens, das er sich schließlich erwählte. Eine Familie. Eine tiefe Dauerhaftigkeit.

Er stieß diese ablenkenden Erwägungen von sich. Weiter nichts als nutzlose Phantastereien, das waren sie. Er und Sundira waren Tausende von Kilometern voneinander entfernt und durch viele Jahre getrennt aufgewachsen. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, was immer sie auf Sorve an Dauerhaftem aufzubauen versucht hätten, es wäre ja doch auf jeden Fall durch die Vertreibung zerstört worden. Alle Pfade hatten zu dieser driftenden Exil-Existenz geführt, auf dieses winzige tanzende Schiff in der Mitte des Leeren Meeres.

Sundira hatte sich von ihrem neugierigen forschenden Verstand schließlich in einen schweren Skandal verstricken lassen. Sie war Anfang zwanzig, der Vater noch immer der Inselbürgermeister; sie lebte allein am Rande der Humansiedlung von Khamsilaine und verbrachte soviel Zeit bei den Sassen, wie diese es zuließen. »Es war eine intellektuelle Herausforderung für mich. Ich wollte soviel wie möglich über die Welt lernen. Und diese Welt begreifen, das bedeutete, daß ich die Sassen begreifen lernen mußte. Ich war mir sicher, daß etwas im Gange war; etwas, das keiner von uns erkannte.«

Sie erlernte ihre Sprache fließend — was auf Khamsilaine offenbar recht ungewöhnlich war. Ihr Vater ernannte sie zur Diplomatischen Abgesandten der Humanpopulation bei den Sassen, und sämtliche Wechselbeziehungen liefen nur über sie. Sie verbrachte ebensoviel von ihrer Zeit im Dorf der Sassen am Südende der Insel wie in ihrer eigenen Siedlung. Die meisten duldeten ihre Anwesenheit nur einfach, wie dies bei den Sassen allgemein Brauch ist; einige begegneten ihr mit offener Ablehnung, und auch dies war eher die Regel. Doch gab es einige, die schon fast freundlich zu ihr waren. Sundira gewann das Gefühl, daß sie allmählich einige von diesen als echte Individuen kennenlernte, daß sie nicht mehr nur die unheimlichen, bedrohlich großen ununterscheidbaren Fremdwesen waren, die diese Sassen offensichtlich für die meisten Menschen stets blieben.

»Und das war mein Fehler — und ihrer auch, daß wir uns zu stark annäherten. Ich mißbrauchte unsere Vertrautheit und ihr Vertrauen. Ich erinnerte mich an bestimmte Dinge, die ich als Mädchen gesehen hatte, als Tomas und ich an Orten herumspionierten, an denen wir nicht hätten sein dürfen. Und ich stellte Fragen. Und erhielt nur ausweichende Antworten. Quälend vage Antworten. Also beschloß ich, wieder zu spionieren.«

Aber was Sundira in den geheimen Kammern der Gillies gesehen haben mochte, sie schien nicht in der Lage, es Lawler mitzuteilen. Vielleicht wollte sie ihn nicht einweihen, vielleicht aber hatte sie auch nicht genug gesehen, um irgend etwas zu begreifen. Sie machte Andeutungen bezüglich irgendwelcher Zeremonien, Vereinigungen, Rituale, Mysterien, aber die Unbestimmtheit der Beschreibungen schien eher auf ihr mangelndes Verständnis zurückzuführen zu sein als auf ihre Weigerung, ihr Wissen mit ihm zu teilen. »Ich schlich mich an die selben Orte wie vor Jahren zusammen mit Tomas. Aber diesmal wurde ich dabei ertappt. Ich dachte schon, sie bringen mich um. Statt dessen führten sie mich vor meinen Vater und befahlen ihm, er solle mich töten. Er versprach ihnen, daß er mich ertränken werde, und das schien ihnen zu genügen. Wir fuhren in einem Fischerboot hinaus, und ich sprang über Bord. Doch er hatte mit einem Bootsmann aus Simbalimak ausgemacht, daß der mich auf der Rückseite der Insel aufnehmen würde. Ich schwamm drei Stunden bis dorthin. Und ich bin nie nach Khamsilaine zurückgekehrt. Und ich habe meinen Vater niemals wiedergesehen und auch nicht mit ihm gesprochen.«

Lawler fuhr ihr sacht über die Wange. »Also verstehst du auch etwas davon, im Exil zu leben.«

»Ein wenig, ja.«

»Aber du hast bisher nie ein Wort darüber verloren.«

Sie zuckte die Achseln. »Was machte das schon? Du hast dermaßen gelitten. Hättest du dich irgendwie leichter gefühlt, wenn ich dir gesagt hätte, daß auch ich meine Heimatinsel verlassen mußte?«

»Vielleicht.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie.

* * *