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Als er auf seiner im Kreis laufenden Flucht am Vormast vorbeikam, blickte Delagard nach oben und rief mit peitschender Stimme zu Pilya hinauf, die direkt über ihm auf der Rah hing: »Hilf mir! Schnell! Dein Messer!«

Hastig löste Pilya den Leibgurt von der Taille, in dem sie stets ihre scharfe Knochenklinge trug, und warf alles zusammen zu Delagard hinunter. Er fing es in der Luft auf, riß die Klinge aus der Halterung und packte sie am Griff. Dann wuchtete er sich überraschend um seine eigene Achse und ging direkt auf den überraschten Henders los, der hinter ihm her in solch heftigem Tempo herankam, daß er nicht mehr bremsen konnte. Henders lief direkt in Delagard hinein. Der stieß mit einer brüsken, festen Unterarmbewegung den Spieß beiseite, unterlief seinen Gegner und stieß Henderson die Klinge bis zum Heft in den Hals.

Henderson stieß ein keuchendes Grunzen aus und warf die Arme in die Höhe. Auf seinem Gesicht lag ein erstaunter Ausdruck: Die Gaffel flog davon. Delagard umarmte nun Henders, als wären sie Liebende, und griff mit der anderen Hand fest nach seinem Nacken, und preßte den Mann mit einer gräßlichen Zärtlichkeit an sich, und das Messer saß immer noch tief in Henders Kehle.

Seine Augen waren weit aufgerissen und traten hervor, und sie schimmerten wie Vollmonde im Grau der Dämmerung. Dann gab er einen gurgelnden Laut von sich, und aus seinem Mund schoß sprudelnd dunkles Blut. Die Zunge quoll heraus. Und Delagard hielt ihn weiter in fester Umarmung aufrecht.

Endlich kam Lawler die Stimme wieder.

»Nid — um Gottes willen! Nid, was hast du getan…?«

»Möchtest du gern der nächste sein, Doc?« fragte Delagard gelassen. Er zog mit einer brutalen Drehung das Messer heraus und wich zurück. Sofort schoß ein dicker heftiger Blutstrahl aus Henders‹ Hals. Sein Gesicht war dunkel geworden. Unsicher machte er einen Schritt nach vorn, und noch einen, wie einer, der im Schlaf geht. Die Verblüffung schimmerte noch immer in den weit aufgerissenen Augen.

Dann torkelte er und fiel hin. Lawler wußte, daß er tot war, ehe er auf das Deck auftraf.

Pilya war aus der Takelung heruntergestiegen. Delagard kickte das Messer über die Decksplanken, direkt vor ihre Füße. »Danke«, sagte er beiläufig. »Dafür schulde ich dir was.« Dann hob er den toten Henders auf, als hätte der überhaupt kein Gewicht, einen Arm um die Schultern des Toten, den anderen in den Kniekehlen, schritt an die Reling, hievte die Leiche über seinen Kopf und warf sie ins Meer, als wäre es eine Ladung Abfall.

Tharp hatte keine einzige Bewegung gemacht. Delagard ging zu ihm hinüber an die Reling und schlug ihn so heftig ins Gesicht, daß sein Kopf wegprallte.

»Du hinterhältiger feiger kleiner Hund du, Dag!« sagte Delagard. »Du hast noch nicht mal Mumm genug gehabt, bei deinem eigenen miesen Komplott mitzumachen. Ich sollte dich auch gleich über Bord schmeißen, aber es lohnt die Mühe nic ht.«

»Nid — um Himmels willen, Nid…«

»Hält’s Maul und verzieh dich aus meinen Augen!« Delagard wirbelte herum und funkelte Onyos Felk an: »Und du, Onyos? Was ist mit dir? Hast du auch was damit zu tun?«

»Aber ich doch nicht, Nid. Ich würde doch nie — das weißt du doch!«

»Ich doch nicht, Nid!« äffte Delagard ihn wütend nach. »Klar hättest mitgemacht, du armselige Schwuchtel, wenn du genug Saft in deinem Dings hättest! Und wie isses mit dir, Lawler? Wirst du mich zusammenflicken, oder gehörst auch du zu der verdammten Verschwörung? Du warst ja noch nicht mal dabei. Was hast du getrieben? Deine eigene Meuterei verschlafen?«

»Ich war nicht daran beteiligt«, sagte Lawler ruhig. »Es war eine blödsinnige Idee, und das habe ich ihnen auch gesagt.«

»Du hast es also gewußt — und mich nicht gewarnt?«

»So ist es, Nid.«

»Wenn du dich aber nicht an einer Meuterei beteiligst, dann ist es deine Pflicht, den Kapitän zu unterrichten, was da vorgeht. So lautet das Seegesetz. Du hast das nicht getan.«

»Sehr richtig«, sagte Lawler. »Das hab ich nicht.«

Delagard überdachte das eine Weile. Dann zuckte er die Achseln und nickte. »Also schön, Doc. Ich denke, ich habe kapiert.« Er blickte in die Runde. »Jemand soll das Deck saubermachen! Ich hasse es, wenn das Deck nicht klar und das Schiff dreckig ist!« Er zeigte auf Felk, der wie behämmert aussah. »Onyos, du übernimmst das Ruder, solang du noch irgendwie halb wach bist. Ich muß mir den blöden Kratzer da verarzten lassen. Also, los, komm schon, Doc! Ich denke, ich kann mich dir anvertrauen, jedenfalls um mich zu nähen.«

* * *

Um mittag kam Wind auf. Von einem Augenblick zum anderen, als wäre Henders‹ Tod auf irgendeine Art ein Beschwichtigungsopfer gewesen für die wie immer beschaffenen Götter, die auf Hydros das Wetter beherrschten. In der weiten Stille der langanhaltenden Kalmenperiode erklang auf einmal das Brausen von Windstößen, die von weither kamen: bis vom Pol herauf. Und es waren wirklich starke südliche Luftmassen und beißend kalt.

Die See ging hoch. Das so lange ruhig treibende Schiff torkelte in Wellentäler, richtete sich wieder auf und sackte in neue Tiefen. Dann verfinsterte sich der Himmel mit einer Plötzlichkeit, die fast bestürzend war. Und der Wind trug Regen heran.

»Eimer!« brüllte Delagard. »Fässer!«

Keiner brauchte angetrieben zu werden. Auch die Freiwache unter Deck war sofort hellwach, und es wimmelte an Deck von eifrigen Gasten. Alles, worin sich Wasser halten würde, wurde herangeschleppt, um den Regen aufzufangen, nicht bloß wie gewöhnlich die Kummen, Fässer und Töpfe, sondern auch saubere Lappen, Decken, Kleidungsstücke… alles wasserabsorbierende Material, das man nach dem Regen auswringen konnte. Der letzte Regen lag Wochen zurück. Und es konnte sehr wohl wieder Wochen bis zum nächsten dauern.

Dieser Regen kam aber auch als eine Ablenkung und wirkte wie ein Balsam gegen den Schock nach Henders‹ fehlgeschlagener Meuterei und seinem gewaltsamen Tod. Lawler, der nackend durch den kühlen Regen rannte wie alle anderen, um die kleineren Gefäße in die größeren Vorratsbehälter zu leeren, empfand dafür Dankbarkeit. Die gespenstische Alptraumszene auf eben diesem Deck hier hatte ihn auf ganz unerwartete Weise mitgenommen und etliche seiner mühsam angelegten Schutzschichten absplittern lassen. Es war lange her, daß er sich dermaßen unbedarft, laienhaft und verletzlich gefühlt hatte. Spritzendes Blut, klaffendes, zerfetztes, rohes Fleisch, sogar der plötzliche Tod waren Routineerfahrungen für ihn, sozusagen Berufsalltag, und er war daran gewöhnt und ließ sie sachlich an sich abgleiten. Aber ein glatter Mord? Noch zuvor aber hatte er mitangesehen, wie ein Mensch glatt ermordet wurde. Er hatte sich so etwas auch noch nie als eine potentielle Erfahrung vorgestellt gehabt. Bei dem ganzen bravourösen Geschwätz von Dag Tharp während der letzten paar Wochen, daß man Delagard über Bord ins Meer werfen wolle, war Lawler wirklich kein einziges Mal der Gedanke gekommen, daß ein Mensch tatsächlich dazu fähig sein könnte, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen, und er konnte es immer noch kaum glauben. Aber es war nun einmal zweifelsfrei so, daß Delagard Henders in Notwehr getötet hatte. Nur — er hatte es kaltblütig getan, skrupellos, ganz beiläufig und routinemäßig. Lawler kam sich auf eine erniedrigende Weise naiv und dumm vor angesichts dieser harten häßlichen realen Tatsachen. Der weise alte Doc Lawler, der Mann, dem nichts fremd ist, kriegt kalte Füße wegen eines kleinen Vorfalls von archaischer Gewalttätigkeit? Es war absurd. Und doch war es so und war absolut real. Es hatte ihn zutiefst getroffen, und das Zusehen hatte seine innere Sicherheit zerstört.

Doch, ja, archaisch war schon das treffende Wort dafür. Die Unbekümmertheit und Kaltblütigkeit, mit der Delagard sich seines Verfolgers entledigte, hatte etwas durchaus Archaisches gehabt, wenn nicht gar etwas Urzeitlich-Prähistorisch-Primitves: Da war eine Hand aus der dunklen Vergangenheit aufgetaucht und hatte getötet, in einem finsteren Akt wie aus dem Frühzeitgrauen der Menschheit, der an diesem Morgen auf dem Deck der Queen of Hydros erneut inszeniert worden war. Und es hätte Lawler auch kaum noch überrascht, wäre die ERDE selbst als Bühnenkulisse über ihnen aufgezogen, dicht über den Masten lastend, und von all den übervölkerten Kontinenten troff in Strömen das Blut… Soviel also blieb zu sagen zu der allgemeinen, im Brustton der Selbstgerechtigkeit verkündeten Überzeugung, daß alle derartigen primitiven Urinstinkte ausgestorben seien, daß eine derartige urtümliche blutrünstige Gewalttätigkeit im Laufe der Evolution aus der menschlichen Rasse ausgemendelt worden sei…