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Neyana brachte eine Decke, und sie wickelten Leo Martello hinein. Kinverson nahm die Leiche in die Arme und ging damit auf die Bordwand zu.

»Warte!« sagte Pilya. »Gib ihm das mit.«

Sie hielt ein Bündel Papierblätter in der Hand. Sie hatte sie wahrscheinlich aus Martellos Kajüte heraufgebracht. Sein berühmtes Gedicht. Sie schob das gefaltete zerfledderte Manuskriptbündel unter die Decke und zog die Falten wieder glatt. Lawler dachte flüchtig daran, Einwände dagegen zu erheben, tat es aber dann nicht. Soll es doch mit ihm dahingehen. Es ist sein Gedicht.

Father Quillan sprach: »Und nun übergeben wir den Leib unseres innig geliebten Leo dem Meer, im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes…«

Schon wieder dieser ›heilige Geist‹? Jedesmal wenn er diese Phrasen aus Quillans Mund hörte, fühlte Lawler sich aufs neue gereizt. Es war eine derart absurde Vorstellung, und so sehr er sich auch bemühte, er konnte einfach nicht begreifen, was ein ›heiliger Geist‹ sein mochte. Er schüttelte den Gedanken ab. Für derlei spirituelle Spekulationen war er im Moment sowieso viel zu erschöpft.

Kinverson trug den Leichnam zur Reling und hob ihn hoch. Dann versetzte er dem Kokon einen kleinen Schubs, und er flog hinüber und klatschte in die See.

Sofort erschienen unbekannte Kreaturen wie durch einen Zauberspruch aus der Tiefe. Langgestreckte, schlanke mit Finnen ausgerüstete Wasserwesen, die von einem dichten, seidigschwarzen Fell bedeckt waren. Es waren ihrer insgesamt fünf. Geschmeidige Tiere, sanftäugig, mit dunklen flachen Schnauzen, die von zuckenden schwarzen Schnurrbarthaaren bedeckt waren. Sacht und behutsam umringten sie den treibenden Martello, hoben ihn hoch und begannen ihn aus der umhüllenden Decke zu wickeln. Behutsam, fast zärtlich entblößten sie ihn. Und dann — sanft und beinahe zärtlich — scharten sie sich um den bereits erstarrenden Körper und machten sich daran, ihn zu verzehren.

Es geschah ganz still und gelassen, ganz ohne irgendwelche wütende, unappetitliche Freßgier. Es war entsetzlich und doch zugleich in einer gewissen unheimlichen Weise schön. Ihre Bewegungen wirbelten die See zu einer außergewöhnlich starken Phosphoreszenz auf. Es sah aus, als werde Martello von einem kühlen scharlachroten Flammenregen aufgezehrt. Und langsam explodierte sein Leib in Licht. Diese Geschöpfe demonstrierten eine Anatomiestunde: Sie schälten ihm die Haut mit höchster Sorgfalt ab, legten die Gelenke, Bänder, Muskeln und Nerven bloß. Dann drangen sie tiefer vor. Der Anblick war bestürzend, selbst für Lawler, für den auch die tieferen Bereiche des menschlichen Körpers kein Geheimnis waren; doch die Arbeit wurde dermaßen säuberlich, gelassen und — ehrerbietig ausgeführt, daß es unmöglich war, dabei nicht zuzusehen — oder zu erkennen, wie wunderschön sie ihre Arbeit verrichteten. Schicht um Schicht enthüllten sie den Kern von Martello, bis schließlich nur noch das weiße Knochengitter übrig war. Dann blickten sie zu den Zuschauern an der Reling herauf, als erwarteten sie Beifall. In den Augen strahlte unverkennbar Intelligenz. Lawler sah sie mit den Köpfen nicken, was eigentlich gar nichts anderes als ein Gruß sein konnte, und dann verschwanden sie so lautlos, wie sie erschienen waren. Auch Martellos blankgeputztes Skelett war bereits verschwunden und auf dem Weg in unbekannte Tiefen, wo zweifellos andere Organismen darauf warteten, das darin enthaltene Kalzium einer neuen nützlichen Verwendung zuzuführen. Und nun war von dem lebenstrotzenden jungen Mann, der einmal Leo Martello gewesen war, nichts weiter übriggeblieben als einige Seiten eines Manuskripts, die auf dem Wasser trieben. Und nach einer Weile waren auch sie verschwunden.

Als er später wieder allein und in seiner Kabine war, überprüfte Lawler, wieviel Taubkrautextrakt er noch hatte. Noch etwa für zwei Tage, schätzte er. Er goß die Hälfte in ein Meßglas und kippte sie hinunter.

Ach, zum Teufel, dachte er.

Und er trank auch den Rest.

Zum Teufel, warum nicht?

6

Die ersten Entzugssymptome traten am übernächsten Morgen kurz vor dem Mittag auf: Schweißausbrüche, Schüttelfrost, Übelkeit. Lawler war darauf vorbereitet, oder glaubte doch, es zu sein. Aber sie nahmen sehr rasch an Stärke zu, wurden weit schlimmer, als er erwartet hätte, wurden zu einer derart schweren Prüfung, daß er zweifelte, ob er sie durchstehen konnte. Die Intensität der Schmerzen, die in gewaltigen Schüben über ihn hereinbrachen, erschreckte ihn. Er bildete sich ein, daß er fühlen könne, wie sein Gehirn aufquoll und sich gegen die Schädelwände preßte.

Automatisch suchte er nach seinem Fläschchen, doch das war natürlich leer. Dann hockte er zitternd, fiebernd und elend zusammengekrümmt auf seiner Koje.

Am Nachmittag kam Sundira zu ihm.

»Ist es wegen neulich?« fragte sie.

»Martello? Nein, das ist es nicht.«

»Ja, bist du denn krank?«

Er deutete auf die leere Flasche.

Sie brauchte einen Augenblick, dann verstand sie. »Gibt es irgendwas, das ich tun kann, Val?«

»Halt mich fest.«

Sie bettete seinen Kopf mit beiden Armen an ihrer Brust. Lawler bebte einige Zeitlang ziemlich heftig. Dann wurde er ruhiger, aber er fühlte sich immer noch entsetzlich.

»Sieht aus, als ginge es dir besser«, sagte sie.

»Ein bißchen. Nein, geh nicht weg.«

»Ich bin ja noch da. Möchtest du Wasser?«

»Ja — nein. Nein, bleib da, wo du bist.« Er schmiegte sich fest an sie. Er fühlte, wie das Fieber wieder anstieg, abflachte, erneut anstieg, in plötzlichen übermächtig raschem Wechsel. Die Droge war stärker, als er selbst vermutet hatte, und seine Abhängigkeit, die Suchtbindung an sie war sehr stark gewesen. Und dennoch — der Schmerz kam und ging in Wellen; im Lauf von Stunden gab es immer wieder Momente, in denen er sich beinahe normal fühlte. Das war seltsam. Aber es ließ ihn hoffen. Er scheute nicht vor dem Kampf zurück, wenn es denn sein mußte, doch er wollte am Ende siegen.

Sundira blieb den ganzen Nachmittag bei ihm. Er schlief ein, und als er wieder erwachte, war sie noch immer bei ihm. Seine Zunge war geschwollen. Er war so schwach, daß er nicht aufstehen konnte.

»Hast du gewußt, daß es so sein würde?« fragte sie.

»Ja, ich glaub schon. Vielleicht nicht ganz so schlimm.«

»Wie fühlst du dich jetzt?«

»Mal so, mal so.«

Er hörte eine Stimme draußen. Delagard. »Wie geht’s ihm?«

»Er macht sich Sorgen um dich«, sagte Sundira zu Lawler.

»Wie edel von ihm.«

»Ich sagte ihm, daß du krank bist.«

»Hoffentlich ohne genauere Details?«

»Bestimmt nicht, nein.«

* * *

Die Nacht war entsetzlich. Lawler glaubte eine Zeitlang, er sei dabei, den Verstand zu verlieren. Aber dann kam in den frühen Morgenstunden wieder eine dieser unerklärlichen, unerwarteten Erholungsperioden; als greife etwas aus der Ferne in sein Gehirn und dämpfte das gierige Verlangen nach der Droge. In der Morgendämmerung spürte er, daß sein Appetit zurückkehrte, und als er aufstand — es war das erste Mal seit dem Einsetzen des Fiebers, daß er sich aus seiner Koje erhob —, gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben.