Выбрать главу

Norbert Scheuer

Überm Rauschen

Zum Buch

Einst sind der Vater und die Brüder gemeinsam fischen gegangen, das Rauschen des Wehrs hinter der Gaststätte, in der sie gelebt haben, hat die Kindheit der Brüder mit Ahnungen und Phantasien belebt. Aber der Vater ist schon lange tot. Und der ältere Bruder Hermann hat den Verstand verloren. Was ist passiert?

Norbert Scheuers neuer Roman «Überm Rauschen» entwickelt einen enormen Sog, wird zu einer suggestiven Geschichte, deren Protagonisten immer auf der Suche nach dem Glück sind. Und das Glück ist da, im Rauschen, in der wehmütigen Kraft des Erzählens.

Über den Autor

Norbert Scheuer, 1951 geboren, studierte physikalische Technik und Philosophie. 1993 erschien sein Erzählband «Der Hahnenkönig», 1997 sein Gedichtband «Ein Echo von allem» und 1999 sein Roman «Der Steinesammler». Bei C.H.Beck erschienen der Roman «Flussabwärts» (2002) und der Roman in Erzählungen «Kall, Eifel» (2006). 2010 wird der Roman «Der Steinesammler» bei C.H.Beck neu aufgelegt.

Norbert Scheuer erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt den Martha-Saalfeld-Förderpreis (2003), den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (2006) und den Glaser-Preis (2006). Er arbeitet als Systemprogrammierer.

Überm Rauschen

Nicht hinterließ mir der Vater Gefilde, mit kräftigen Stieren

Sie zu bepflügen, nicht wolletragende Herden noch Kühe.

Arm war er selbst und pflegte mit Netzen, mit Angeln und Haken

Fische zu täuschen, die zappelnden aus den Gewässern zu ziehen.

Dieses Gewerbe ernährt ihn, und als er’s mir übermachte,

Sprach er: «Du meines Betriebs Nachfolger und Erbe, so nimm hier

Die ich besitze, die Schätze!» Und nichts hinterließ er mir sterbend

Außer dem Wasser: Nur das kann mein väterliches Erbteil ich nennen.

Ovid: Metamorphosen, Drittes Buch (585, 590)

Für Elvira

1

In unserer Kindheit war für meinen Bruder und mich das ganze Haus voller Geräusche und Angst, nur das Rauschen des Wehrs, das sich hinter der Gaststätte befand, beruhigte uns. Abends lagen wir im Bett, glaubten, dieses Rauschen übertöne alles, und wir trieben wie leblos, mit ausgebreiteten Armen, langsam auf das rauschende Wehr zu, nur ein unendlicher Sternenhimmel über uns.

Doch das ist lange her; jetzt ist das Jahr 1996, ich bin mittlerweile fünfundvierzig, mein Bruder Hermann ist zwei Jahre älter. Es ist Frühherbst, das Laub beginnt sich zu färben, Erlenblätter taumeln von Uferbäumen, treiben im Fluss, in dem ich stehe und versuche, einen Fisch zu fangen. Ich trage Hermanns Angelsachen, seine bis unter die Brust reichende Wathose, den Fischkorb, die Weste, den Hut mit den bunten Köderfliegen, die er alle selbst gebunden hat, und seine Angelrute, eine schwarze über zwei Meter lange Glasfiber mit gelben Ringbindungen. Ich versuche, den großen Fisch zu erwischen, stelle mich aber ungeschickt an, werfe nicht zielgenau, sodass die Schnur sich verheddert, sie bleibt im Ufergestrüpp hängen, und ich verliere wertvolle Köder — wie früher, als ich mit Vater und Hermann zum Angeln ging. Damals verlor ich die Köder allerdings absichtlich, denn Angeln und der Fluss bedeuteten mir nichts. Für Hermann hingegen war es alles. In der Zeit, in der er nicht hier war, sondern zur See fuhr, redete er auf den Kassetten, die er uns schickte, andauernd von seinem großen Fluss. Ich dachte immer, der Fluss, die Fische und seine Alma würden ihm genügen, er wäre glücklich damit. Aber es war anders gewesen, wie sonst hätte es so weit mit ihm kommen können, dass sie ihn gestern Abend abgeholt haben — vielleicht ist er ja wirklich geisteskrank, und vielleicht sperren sie ihn für länger ein.

Alma gab mir gestern Abend, nachdem sie die Gaststätte hinter den letzten Gästen geschlossen hatte, Hermanns Angelausrüstung, sie meinte, mein Bruder hätte sie mir ohnehin geben wollen. Außerdem sagte sie, es wäre besser für mich, wenn ich einige Tage hierbliebe und nicht gleich wieder in die Stadt zurückkehrte. Ich denke, es ist auch für Alma gut, jetzt nicht allein zu sein. Sie war es, die mich angerufen und gesagt hatte, dass Hermann sich seit Tagen in seinem Zimmer eingeschlossen habe und mit niemandem reden wolle, sie hatte erzählt, wie sehr er sich in den letzten Monaten, seit dem Verschwinden der Holländerin, verändert habe, dass er immer sonderbarer geworden sei. Als ich mit ihr telefonierte, hörte ich im Hintergrund Gäste an der Theke. Alma flüsterte: «Ich glaube, dein Bruder ist krank, er redet dauernd von diesem alten Fisch — Ichthys —, weißt du noch, genau wie euer Vater damals. Sartorius meint, Hermann brauche Hilfe, aber dein Bruder lässt ja niemanden ins Zimmer und spricht auch mit keinem — auch mit Sartorius nicht, dabei hat der es doch immer gut mit ihm gemeint.»

Sie berichtete, Hermann habe sich zuletzt nur noch für seine Köder interessiert. Er angelte nicht mehr, sondern hockte nur von morgens bis abends am Fluss, beobachtete Mücken und Eintagsfliegen überm Wasser. Wenn er dann abends zurückkam, ging er hinter die Theke, trank Schnaps, gab Runde um Runde aus, erzählte wirre Geschichten, stellte sich auf den Tisch, schrie grundlos herum, grölte Lieder und hielt großspurige Reden, die an unseren Vater erinnerten. Er machte sich bei allen lächerlich, beschimpfte die Gäste und warf sie dann einfach aus der Gaststätte.

Alma bat mich, sofort zu kommen, sie wisse nicht mehr weiter. Auch meine Schwestern wollten kommen. Alma hatte sogar sie um Hilfe gebeten, obwohl Alma und meine Schwestern seit unserer Kindheit, seit Alma in unserer Gaststätte ihre Ausbildung gemacht hatte, wie Feuer und Wasser waren.

Ich nahm mir für einige Tage frei und fuhr nach der Arbeit mit dem Zug in die Eifel. Seit Jahren war ich nicht mehr zu Hause gewesen, hatte nur wenig von meinem Bruder und den Schwestern gehört. Zuletzt war ich nicht einmal mehr zu Mutters Geburtstagen und an Weihnachten nach Hause gefahren. Alles, was ich über meine Familie erfuhr, stammte von gelegentlichen Telefonaten mit Alma oder von den Kassetten, die Hermann mir weiterhin regelmäßig schickte, deren Inhalt aber immer verworrener wurde.

2

Die Tonkassetten, die Hermann mir all die Jahre über schickte, tragen Aufschriften wie: Sommerregen, Fluss, Gumpe, Kolk, Tumpf, Kessel, Nymphen, Einmündungsgebiete, Kies, Liebe, Schotter-, Flint- und Schilfbänke, Spiegel, flaches Gewässer, Kriege, Gradstrecken, Felsbänke, Vorstau, Flusskurven, unterspülte Ufer, überhängende Büsche, versunkene Bäume, Geruch des Wassers, Libellen, schlafende Fische — und immer wieder Kassetten mit der Aufschrift ‹Tresen›; auf denen ist nur ein Gewirr von Stimmen und das Gemurmel von Zehner zu hören, Geschwafel von Betrunkenen, Geräusche vom Kickerspieler, die knarrende Pissoirtür, Räuspern, Husten, Flüstern, Gegröle, Musikboxlieder; Kassetten über die Fischzucht, Milchner, Schwestern, Karibik, Schrottschiffe, Ozeane, unter dem Fluss, geheime Zuflüsse, Überschwemmungen, Rauschen, Ichthys, vom alten Fisch und andere seltsame Dinge. Wenn ich mal eine Kassette hörte, war es wie früher in der Kindheit, als ich im Bett lag und nicht einschlafen konnte, Geräusche aus der Wirtschaft vernahm. Hermann erzählte auf den Kassetten von Forellen, Äschen und Barben, die er mit der bloßen Hand fangen konnte. «Es gibt Fische, die sind so alt wie unser Fluss», sagt Hermann auf einer Kassette. Als ich das hörte, fragte ich mich: «Wie kann ein Wesen so alt wie unser Fluss sein, so uralt?»

~ ~ ~

Wahrscheinlich ist dies die Versteinerung des ersten fischartigen Wirbeltieres (Anatolepsis), das in den seichten Meeren des Kambriums lebte, aus dem sich Millionen Jahre später die ersten Landtiere entwickeln sollten, die mit kräftigen Bauchflossen an Land krochen, Sauerstoff atmeten und deren Nachkommen irgendwann nicht mehr ins Wasser zurückkehrten. Nachkommen, von denen auch wir abstammen könnten. Auch in uns ist vielleicht noch etwas vom Geist dieses Fisches.