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Mittlerweile schien sie sich an das Heim gewöhnt zu haben. Eine Frau vom Küchenpersonal, die gerade den Frühstückstisch abräumte, nannte Mutter ‹Liebchen›. Mutter gegenüber saß ein Greis, der von Königsberg erzählte, wo er aufgewachsen war, sein Vater sei bei der Post gewesen und habe im Orchester Posaune gespielt. Er zeigte alte Fotografien von Königsberg herum, erzählte, dass sie gegen Ende des Krieges zu einem Onkel nach Koblenz geflohen seien, der eine Tabakfabrik besaß, nach Königsberg sei er nie wieder zurückgekehrt, dort hätten die Russen alles zerstört. Er zeigte Fotos vom alten Bahnhof, vom Marktplatz, vom Kant-Denkmal, vor dem er mit seinem Vater posierte. Plötzlich sagte er Kants ‹Kategorischen Imperativ› auf.

Ich ging mit Mutter auf ihr Zimmer. Ihre Nachtkommode war mit Binden und Klopapierrollen vollgestopft. An der Wand darüber hing ein Zettel mit Telefonnummern, die Alma ihr aufgeschrieben hatte. Alma war die Einzige, die Mutter noch regelmäßig besuchte. Auf dem Beistelltisch lagen Bücher, Zeitschriften, alte Postkarten, Fotografien von Valentin, ein Rekorder und einige von Hermanns Kassetten, die er von seinen Seereisen geschickt hatte. Früher in der Gaststätte hatte sie sich noch darüber lustig gemacht, hatte gesagt, dass sie das Geschwafel nicht hören wolle. Mutter nahm eine Kassette, legte sie ein und drückte die Abspieltaste, wir hörten Hermanns lispelnde Stimme, die wegen des Lärms der Schiffsmotoren schwer zu verstehen war. Hermann redete von Stürmen, haushohen Wellen, von Containern, die sie geladen hatten und nach China brachten. Ich schaltete den Rekorder aus und versuchte, mit Mutter über Hermann zu sprechen. Sie starrte auf ihr zerrupftes Papiertaschentuch, roch daran und zerknüllte es nochmals, aber sie reagierte nicht. Auch als ich von den Schwestern redete, die ich bald zu Hause treffen wollte, sagte sie nichts, eigentlich hat Mutter nie etwas gesagt, wenn es uns betraf — alles mussten wir uns selber zusammenreimen, unser ganzes Leben ist eine mehr oder weniger von uns selbst erfundene Geschichte, ein Sammelsurium aus Worten und Stimmen, dem Gerede Betrunkener an der Theke unserer Gaststätte.

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Das Herz der Fische ist groß wie eine Fingerkuppe, und es liegt unter den Kiemen. Alle inneren Organe des Fisches, Darm, Leber, Niere, Geschlechtsorgane, liegen in der schützenden Bauchhöhle des Rumpfes, die Schwimmblase in der Körpermitte, mit ihrer Hilfe können Fische im Wasser schweben. Einige Fischarten haben eine zweigeteilte Schwimmblase; im hinteren Teil ist mehr Luft. Die Sauerstoffversorgung erfolgt über die Kiemen. Dazu wird Wasser mit dem Maul aufgenommen und über die Kiemen zu den Kiemendeckeln transportiert. Die blutroten Kiemenblätter nehmen dabei den im Wasser befindlichen Sauerstoff auf und leiten ihn in den Blutkreislauf des Fisches ein.

6

Nachdem ich Mutter besucht hatte, ging ich zu unserem Gasthaus, einem zweistöckigen Haus mit Verzierungen an der Fassade, von der die Farbe abbröckelt, mit Gästezimmern, kleinen Balkonen, die wie Schwalbennester an der Bruchsteinmauer über dem Fluss kleben. Während der Frühjahrs- und Sommersaison sitzen Sommerfrischler, Motorradfahrer, Angler und Wanderer auf der Terrasse. Als ich gestern ankam, saß dort niemand, die Plastikstühle waren aufeinandergestapelt, und der Fluss, der unter der Brücke hindurchkriecht und an der Terrasse vorbeifließt, schimmerte schattig und roch wie nasses Fell. Ein grüner Kunststoffteppich lag auf der Terrasse, Kübel mit verdorrten Pflanzen standen an der Hauswand. Früher war dort ein Vestibül, eine Art Wintergarten gewesen. Hermann hatte, nachdem er von der Seefahrt nach Hause gekommen war, auf einer seiner Kassetten davon geredet, den Wintergarten wieder aufzubauen. In unserer Jugend hatten wir jedes Frühjahr mit Vater den Wintergarten an die Vorderfront des Hauses montiert, sodass man in der Saison den Gastraum durch diesen Anbau betrat. Als Hermann Jahre nach Vaters Tod vom Dienst auf den Containerschiffen zurückkam, lagen Reste des auseinandergenommenen Vestibüls im Schuppen, Holzpfeiler, Seitenwände und Fensterrahmen waren mittlerweile verrottet, und Hermann hatte kein Geld, um alles zu erneuern.

Von der Terrasse aus kann man zum Fluss hinuntersehen, bis zur Stelle vor dem Rauschen, wo das Wasser für die Zehnermühle abzweigt. Der Rauschen, so nennen die Leute auch heute noch das Wehr, weil das Wasser dort tosend in die Tiefe stürzt. Davor ist der Fluss breit, dort stehen immer noch große Forellen, die wir als Kinder mit dem Feldstecher vom Vestibül aus beobachteten. Auch gestern stand ich auf der Terrasse und hielt nach den Forellen im Fluss Ausschau, sah sie schließlich vor der Staumauer, zwischen dem dunkelgrünen, in der Strömung schlängelnden Wassergras. Sie lauerten auf Insekten, die, vom Regen aufs Wasser geschlagen, hilflos zappelnd abgetrieben wurden. Ich sah den Rauschen, das herabstürzende schäumende Wasser.

Früher, während der Saison, hatten viele Angler und Sommerfrischler im Haus übernachtet. Ich schlief dann, wenn alle Zimmer belegt waren, mit Hermann unter dem Dach in einer Mansarde. Wir öffneten abends das Fenster, und der Rauschen flutete in unser Zimmer, der Fluss schmeckte nach Pflaumen, reifen Äpfeln, roch nach schleimigen Kuhnasen, nach einem Sack ertränkter junger Katzen, nach Nebel und Abenteuern, für die es keine Sprache gab, Dinge, die uns stumm machten wie Fische und glücklich, am Fluss zu leben. Im Herbst logierten oftmals Pilger bei uns, deren Ziel Trier, der Heilige Rock oder die Sandalen Jesu waren, dann roch es nach Weihrauch und Myrrhe. In den Wintermonaten aber, wenn keine Gäste mehr im Haus waren, durften wir uns nach Belieben Zimmer aussuchen. Wir wählten immer welche zum Fluss hin, und immer schlief ich bei Hermann im Zimmer. Er las mir aus Büchern vor, oder er erzählte von Fischen, im stillen Wasser hinter den Brückenpfeilern, in den Strömungskanten und Gumpen am Rauschen unterhalb des Wehrs, von scheuen Äschen, zutraulichen Barben, gierigen Hechten, über dem Flussgrund wandelnden Groppen, von Elritzen, listigen Regenbogen- und Bachforellen, dem unergründlichen Geheimnis der Aale und den Schwärmen der unruhigen Sonnenfischchen. Niemand wusste so viel über Fische und den Fluss wie mein Bruder.

Der Fluss strömt noch immer an unserer Hausmauer entlang, fließt an der Staumauer des Rauschens vorbei in den Mühlbach zur Zehnermühle. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts versorgten die großen Wasserturbinen der Walzenmühle den ganzen Ort mit Kraftstrom. Heute ist die Mühle ein moderner Betrieb mit hohen Stahlsilos, einer Anlage zum Trocknen von Getreide, Mischanlagen und Lagerräumen. Wenn wir früher in der Küche saßen, gerade niemand in der Gaststätte war und wir Zeit zum Reden hatten, erzählte Reese manchmal von der Mühle und einem unserer Vorfahren, der oben auf dem Bergsporn als Einsiedler gelebt hatte und der das erste Gebäude, eine Kapelle aus Feldsteinen, auf dem höchsten Punkt des Stiftberges gebaut hatte, dort, wo heute die Kirche steht. Das war im späten Mittelalter gewesen, als die Eifel nach der Pest fast menschenleer war. Es gibt ein Gemälde von diesem Einsiedler, wie er vor seiner Kapelle im Schatten eines Baumes neben einem Brunnen hockt. Seine Nachfahren bauten später die Mühle und das Gasthaus, die damals noch zusammengehörten, und Jakob, Mutters Bruder, der früh starb, sagte immer, dass dieser Einsiedler Ahnherr unserer Familie gewesen sei — einer Familie, die, wie ich meine, nie eine richtige Familie gewesen ist —, aber wie kann man als Einsiedler Ahnherr einer richtigen Familie werden?