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Im ganzen Umkreis hatte es früher nur diese Mühle gegeben, fast einen Tag lang waren manche Bauern mit ihren Fuhrwerken unterwegs, um ihr Getreide hierherzubringen. Für die Mühle hatte man den Seitenarm des Flusses angelegt, den Rauschen gestaut. Seither floss das Wasser vom Rauschen durch den Mühlbach in einem sanften Bogen zum großen Wasserrad. Zur Erntezeit stand Fuhrwerk hinter Fuhrwerk, die Bauern kamen in die Gaststätte und warteten dort, bis sie zum Entladen an der Reihe waren. «Sie stanken nach Schweiß und furzten», erzählte Reese. Damals wurde die Mühle von einem unterläufig gespeisten Wasserrad angetrieben, die Mahlsteine waren vierzig Zentimeter dick, mit einem Durchmesser von zwei Metern. Später ersetzte man den Antrieb durch Dieselmotoren und baute große Silotürme. Im langen Wassergras des Mühlbaches schwammen Barben, die im Herbst von der Obstwiese in den Fluss gefallene Äpfel und Birnen fraßen. Die Gäste, die Ende der Sechzigerjahre kamen, saßen gerne im Vestibül am Flussufer in der Nähe der Strömung und tranken Kaffee. Hermann kletterte manchmal zum Fluss hinunter, um Barben anzulocken. Bei ihm waren sie zutraulich wie junge Katzen, ich glaubte, dass Hermann die Sprache der Fische kannte. Er war in dieser Zeit noch auf dem Gymnasium, ich besuchte die letzte Klasse der Grundschule.

Vater ging, wann immer Zeit war, mit Hermann und mir zusammen fischen. Hermann war in allem geschickter und klüger als ich. Ich spürte, dass Vater große Stücke auf ihn hielt und ich ihm nicht so viel bedeutete. Mutter machte Vater oft Vorwürfe, dass er sich um nichts im Haus kümmere, nur das Angeln im Kopf habe und dass er uns auch noch den Kopf mit den Fischen verdrehe. Ich verstand nicht, warum Mutter Vater geheiratet hatte, wenn sie ihn nicht liebte.

Damals begann Vater von dem alten großen Fisch zu phantasieren und von der Chronik unseres Ortes zu reden, die er schreiben wollte. Er war unzufrieden, weil er im Zementwerk arbeiten musste, und es quälte ihn bestimmt, von Mutter betrogen zu werden. Wenn er im Haus war, saß Vater allein in seinem Arbeitszimmer, einem kleinen Raum, in den er sich zurückzog, um, wie er vorgab, die Buchhaltung zu machen. In Wirklichkeit aber schrieb er heimlich an der Chronik. Er warf alle Rechnungen, Briefe und Mahnungen ungeöffnet in einen großen Karton. Dieser Karton trieb irgendwann den Fluss hinunter und stürzte über den Rauschen.

Jahre später, als Hermann zur See fuhr, baute Vater nicht einmal mehr das Vestibül auf, kümmerte sich gar nicht mehr ums Geschäft, alle Arbeit blieb an Mutter und Alma hängen. Das war Anfang der Achtzigerjahre, ich lebte schon nicht mehr zu Hause, auch meine Schwestern hatten es eilig gehabt wegzukommen. Wir alle, bis auf Hermann, wollten nichts mit dem Gewerbe zu tun haben; wir wollten andere Berufe erlernen und dem Schicksal eines Gastwirtes entrinnen. Hierin waren wir uns alle einig.

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Die Barbe (Barbus barbus) hat das lauernde Wesen einer Katze und ist wahrscheinlich mit dem alten Fisch verwandt. Sie lebt am Mittellauf klarer Flüsse auf sandigem oder kiesigem Grund, ist bräunlich gefärbt und schimmert in der Sonne etwas golden. Wenn der große Fisch in ihre Nähe kommt, färben sich ihre Flossen rot, und ihr dicklippiges Maul mit den Bartfäden am Kiefer beginnt vor Furcht zu zittern. In der Dämmerung begibt sie sich auf Nahrungssuche. Im Frühsommer zieht sie in Schwärmen zum Laichen flussaufwärts, und im Spätherbst, wenn das Wasser kälter wird, findet man sie in Scharen in Altwässern, Strömungsbuchten und Stillwasserbezirken, wo sie fast reglos den ganzen Winter über unter dem Eis verharrt.

7

Mir ist kalt, während ich flussaufwärts am Bahndamm entlang zu den Stromschnellen gehe. Dort angekommen, klettere ich den Hang hinunter zum Wasser und wate langsam und vorsichtig zur Flussmitte. Frühnebel steigt auf, schwebt über Auewiesen die Berghänge hinauf, wo er sich um die Mittagszeit in durchsichtigen Wölkchen und Schleiern über den Baumspitzen auflösen wird. In den frühen Morgenstunden hängen Köcherfliegen an den Unterseiten der Erlenblätter in Ufernähe. Die Köcherfliege hat einen langen schmalen Körper, fast durchsichtige hellgrüne Flügel, die auf dem Rücken giebelförmig zusammengelegt sind. Wenn der leichte Morgenwind die Blätter bewegt, fallen sie noch schlafend aufs Wasser und sind so eine leichte Beute für Forellen, die hier auf ihre Lieblingsspeise lauern.

Ich benutze eine von Hermann gebundene Fliege. Ihr filigraner Körper ist aus mausgrauer Seide, mit roter Rippung und brauner Hahnenhechel. Gewöhnlich wird so ein Köder nur flussaufwärts geworfen, damit er mit der Strömung auf eine steigende Forelle zutreibt und so eine Beute vortäuscht. Manchmal lohnt es sich jedoch auch, den Köder gegen die Strömung zu ziehen oder ihn sogar leicht aus dem Wasser zu heben, die Forelle reagiert auf diese Art Zeichen.

«Fische haben ebenso eine Sprache wie Menschen», erklärte Hermann einmal; ich weiß noch, wie Gäste an der Theke über ihn lachten, wenn er solche Dinge von sich gab. Aber vielleicht hatte er recht damit, vielleicht wissen wir nur zu wenig von anderen Lebewesen und Dingen, die uns umgeben.

Auf dem Fluss glitzern jetzt erste Sonnenstrahlen, und am Ufer zirpen Grashüpfer, mit der Wärme beginnen Insekten über dem Wasser zu tanzen. Ich stehe noch in der Flussmitte, versuche meinen Rhythmus zu finden, Energie zu bündeln, den Takt zu finden, mit dem ich die Flugschnur durch mehrere Vor- und Rückschwünge in der Luft halte, damit der Köder über mir zu schweben beginnt. Beim Vorund Rückschwung beschreibt die Rutenspitze, von oben betrachtet, eine Ellipse, sie beginnt zu tanzen, es scheint, als würde mit der Spitze eine Musik dirigiert, eine leise, verführerische Musik. Schnur, Köder und Rutenspitze scheinen sich getrennt zu haben, sind zu Entitäten in unterschiedlichen Welten geworden, die sich im Idealfall in einer prästabilierten Harmonie befinden und in Wahrheit nur ein Ziel verfolgen, Schönheit und Illusion. Hermann meinte, dass erfolgreiches Fliegenfischen der Sieg des Schwachen über das Starke sei, das Schwache nur die Möglichkeit der Illusion habe. Und da Hermann mich für den Stärkeren hielt, obwohl ich der Jüngere war, meinte er, dass ich die Kunst des Fliegenfischens nie erlernen könne. Aber vielleicht hat es sich jetzt geändert, denn ich komme mir schon lange schwach vor, ich habe zu viele Niederlagen erlebt, um mich noch stark zu fühlen.

Ich stehe im Fluss, die Zeit steht still, doch in Wirklichkeit gibt es jetzt keine Zeit mehr. Der Köder tanzt in der Luft. Es geht darum, die Schnur durch Schwünge in der Luft zu halten, sie zu verlängern, um den Fisch zu erreichen. Der Köder muss ganz behutsam, gleichsam schwebend, wie ein löwenzahnsamenartiges Aufsetzen eines natürlichen Insekts, auf der Wasseroberfläche landen.

Der Siebenuhrzug nach Köln fährt vorbei, die Erschütterung überträgt sich von den Gleisen auf den Bahndamm und aufs Wasser, die älteren Fische sind das gewohnt und bleiben an ihrer Stelle, während die jüngeren wie eine Schar dunkler Pfeile nach allen Seiten auseinanderstieben. Hermann sagte, man könne das auch zum Fang nutzen, da die erfahrenen Fische im Schatten des vorbeifahrenden Zuges das Vorfach nicht erkennen. Ich probiere es, lasse die Fliege mit der Strömung über den Kolk treiben, ziehe die Schnur wieder ein, als der Zug vorübergefahren ist. Mit diesem Morgenzug waren Hermann und später auch ich zum Gymnasium gefahren.

Die Bahntrasse folgt dem Flusslauf der Urft, danach der Kyll. Auf der Strecke zwischen Gerolstein und Trier fährt der Zug alle zehn bis fünfzehn Kilometer durch einen Tunnel, das Tal ist an manchen Stellen so eng, dass kein Platz mehr für die Bahntrasse blieb. So mussten Tunnel in den Berg gesprengt werden.

Reese hatte einmal gesagt, die Eifel sei vor dem Bahnbau ein armes und einsames Land gewesen. «Die Leute kamen nicht aus ihren Dörfern heraus, waren richtige Hinterwäldler — und manche sind es bis heute geblieben», fügte sie lächelnd hinzu. Sie erzählte vom Bahnbau, von Dampfbaggern und Molukken aus fernen Weltgegenden, die am Gleisbau mitgearbeitet hatten und dann in der Eifel geblieben waren. Von Kaiser Wilhelm, der kurz vor dem Ersten Weltkrieg hier den Zug verlassen habe, um im Kronen-Hotel zu nächtigen, es sei damals das größte und prächtigste Hotel der Eifel gewesen. In einem Brief an seine Gattin habe der Kaiser von den reizvollen Landschaftsbildern und unvergleichlichen Naturschönheiten der Eifel geschwärmt. Reese erzählte uns auch von den Mätressen des Kaisers, von Jagdausflügen, Generälen, die im Kronen-Hotel den Überfall auf die Franzosen geplant hatten, von Militärzügen, die später den ganzen Tag durch den Ort ratterten und Soldaten und Material an die Westfront brachten.