Es half nichts.
»Nein«, sagte Hermine Lippowski, die ein schwarzes, hochgeschlossenes und altmodisches Kleid mit funkelnden schwarzen Glasknöpfen und alte, hohe Stiefeletten trug. »Nein, Frau Steinfeld. Mit mir können Sie nicht rechnen. Ich werde nicht für Sie aussagen.«
»Haben Sie Skrupel, zu lügen? Die müssen Sie nicht haben. Ich habe meinen Mann wirklich betrogen! Unsere Ehe war schlecht! Sie müssen unsere Streitereien doch gehört haben! Und Herrn Landau zu mir kommen gesehen!«
Über ihnen klatschten Ohrfeigen. Ein Junge heulte los.
»Ich habe keine Streitereien gehört. Nie. Soviel ich weiß, haben Sie eine sehr glückliche Ehe geführt. Und Herr Landau war niemals mehr als Ihr Freund – und der Freund Ihres Mannes.« Das dicke schwarze Ungetüm hob eine fleischige Hand. »Was noch nichts zu bedeuten hätte. Nicht das geringste hätte das zu bedeuten. Ich bin keine Nazisse. Ich bin Monarchistin. Es wäre mir ein Vergnügen, das Gesindel nach Strich und Faden anzulügen.«
»Ja, aber was ist es dann?«
»Ihr Mann ist Jude«, sagte die alte Frau, und nun trat ein Ausdruck von irrem Haß in ihre erloschenen Augen. »Jude ist Ihr Mann. Das habe ich nicht gewußt bis heute. Auf den Meldezettel damals hat er geschrieben: evangelisch!«
»Ja, er war getauft … seine Eltern auch schon.«
»Aber trotzdem Jude! Hätte ich eine Ahnung, nur die leiseste Ahnung gehabt, ich hätte Sie nie bei mir aufgenommen, Frau Steinfeld! Nie, nie, nie hätte ich Sie bei mir wohnen lassen!«
»Aber … aber warum nicht?«
Die schwarzgekleidete, fettleibige Person antwortete leidenschaftlich: »Weil ich Juden hasse. Deshalb, Frau Steinfeld.«
»Sie …«
»Ich hasse die Juden, jawohl! Mehr als alles andere! In diesem einen Punkt denke ich so wie die Nazis. Aber der Antisemitismus ist älter als die Nazis, jahrtausendealt! Sechstausend Jahre! Und mit Recht! Die Juden, das ist der Abschaum der Menschheit! Das Letzte vom Letzten. Das Verlogenste und Gemeinste und Verkommenste und Gewissenloseste und Schmutzigste! Ja, ja, starren Sie mich nur an!« Die Lippowski schlug mit einer Faust auf den Tisch. »Es gibt nichts Dreckigeres als die Juden! Nichts Verantwortungsloseres! Nichts Abstoßenderes! Nein, wirklich nichts Abstoßenderes!«
Über ihnen schrien jetzt Mutter und Kinder, das Baby plärrte.
»Frau Lippowski … Frau Lippowski …« Trotz Verblüffung und Schrecken war Valerie ein Einfall gekommen. »Schauen Sie, eben deshalb war ja auch meine Ehe so schlecht! Weil ich einen Juden geheiratet habe. Was glauben Sie, wie ich gelitten habe …«
Hermine Lippowski war ruhiger geworden, unheimlich ruhig, als sie endlich sagte: »Erzählen Sie mir nichts, Frau Steinfeld. Sie glauben, die alte Lippowski, die wohnt am Ende der Welt und hat von nichts eine Ahnung. Da irren Sie sich aber. Die alte Lippowski hat zufällig schon eine Ahnung, gerade in so einem Fall wie dem Ihren. Sie kennt nämlich eine Frau in München, die versucht dasselbe.«
»Dasselbe? Was versuche ich denn?«
»Den Staat zu betrügen. Das Gericht zu betrügen. Einen Lügenprozeß zu führen, weil Sie Angst haben um Ihren Heinzi!«
Valerie sah die Lippowski fest an und sagte entschlossen: »Was reden Sie denn da? Das ist doch Irrsinn!«
»Das ist die Wahrheit!«
»Nein, ist sie nicht! Ich führe den Prozeß, weil es sich so verhält, wie ich es Ihnen geschildert habe. Herr Landau ist bereit, zu beschwören, daß es sich so verhält.«
»Seine Sache! Er muß wissen, was er tut.«
»Ich habe ein sehr schweres Leben geführt, Frau Lippowski, das können Sie mir glauben. Ich habe immer und immer gehofft, daß meine Ehe doch noch gut wird. Das Kind war mir ein so großer Trost. Und zu dem Kind war auch mein Mann nett, bis zuletzt.« Valerie holte Atem, sie schrie nun beinahe: »Aber jetzt, wo er einfach auf und davon ist und mich hier hat sitzenlassen mit dem Buben, jetzt im Krieg, wo jeder wissen muß, wo er hingehört, wo jeder kämpfen und arbeiten muß, so sehr er kann, damit wir diesen Krieg gewinnen …« – ich bin verrückt, völlig verrückt bin ich! – »… jetzt, wo sie den Heinz aus der Schule geworfen haben …«
»Da!« Wie ein Raubvogel schoß der schwere, kleine Körper der Lippowski auf dem alten abgewetzten Lehnstuhl vor. »Nun haben Sie sich verraten! Wie ich gesagt habe: Ihren Buben wollen Sie retten, deshalb fangen Sie das alles an und bringen die Leute dazu, daß sie lügen und Meineide schwören – damit dem Heinzi nichts passiert, dem lieben Heinzi, der auch ein Jud ist!«
Der Lärm im ersten Stock ging immer weiter.
Valerie holte Atem. Sinnlos, dachte sie. Die Alte ist verrückt.
»Entschuldigen Sie also die Störung, Frau Lippowski. Nein, nein, bemühen Sie sich nicht. Ich finde schon den Weg. Ich kenne mich ja noch aus in diesem Haus.« Sie ging zur Tür. Plötzlich sauste etwas wie eine große Kugel an ihr vorüber – die Lippowski. Sie knallte mit dem Rücken gegen die Tür und versperrte Valerie den Weg. Sie sprach jetzt erregt, das Gesicht verzerrt.
»Meinetwegen gehen Sie! Aber eines will ich Ihnen noch sagen!«
»Lassen Sie mich durch!«
»Erst hören Sie mich an! Ich habe selber einen Juden zum Mann gehabt!«
»Ja, eben. Und er ist gefallen im Ersten Weltkrieg. Es ist mir unbegreiflich, daß gerade jemand wie Sie darum so über Juden sprechen kann. Ich verstehe das einfach nicht. Ich …«
Die dicke Frau packte Valerie, ehe diese zurückweichen konnte, an beiden Armen. Ihre Stimme überschlug sich.
»Warum ich so reden kann? Gerade weil ich verheiratet gewesen bin mit einem Juden!«
»Gerade weil …«
»Ich habe Sie angelogen!«
»Angelogen?«
»Ja! Ja! Ja! Mein Mann ist nicht gefallen 1918. Der hat ihn schön überlebt, den Krieg! In der Heimat! Unabkömmlich. Hat es sich gerichtet. Reich geworden ist er bis 1918. Und nach 1918 erst recht, der dreckige Schieber! Was glauben Sie, was der zusammengerafft hat in der Inflation! Siebzehn Jahre waren wir verheiratet!« Die Lippowski hielt Valerie eisern fest. Es war unglaublich, welche Kräfte diese kleine, fette Frau besaß. »Siebzehn Jahre! Die besten Jahre meines Lebens habe ich ihm gegeben! Und er? 1922, da kommt er plötzlich und sagt, er will sich scheiden lassen.«
»Scheiden lassen …«
»Ja, und eine heiraten, die neunzehn Jahre jünger ist als ich, dreiundzwanzig Jahre jünger als er! Seine Sekretärin! Ein Jahr ist das schon gegangen mit den beiden, jetzt war sie schwanger, jetzt hat er es eilig gehabt mit dem Heiraten!«
»Sie hätten sich doch weigern können, in eine Scheidung einzuwilligen!«
»Habe ich ja auch! Aber da sind seine Anwälte über mich hergefallen – Juden natürlich –, und die haben mich bedroht und eingeschüchtert und vollkommen verrückt gemacht, daß er mich auf alle Fälle verlassen wird, mein Mann, weil ich ihn auch betrogen habe, und daß er deshalb Klage erheben wird …«
»Haben Sie ihn denn betrogen?«
»Lächerlich! Ein ganz kleines Gschpusi, 1912, mit einem Offizier … Das kann man doch nicht vergleichen! Aber in meiner Angst, daß ich schuldig geschieden werde und völlig mittellos dastehe, habe ich Ja und Amen gesagt zu allem, und er hat sie heiraten können, die geile, junge Judensau!«
»Sie war eine Jüdin?«
»Eine Jüdin, klar! Dieses Pack heiratet doch am liebsten in der eigenen Mischpoche!« Der Säugling im ersten Stock schrie durchdringend. »Mir hat er das Haus da gekauft, der feine Herr, erschachert, ganz billig, in der Inflation, ich sage es ja, was hat der damals für Häuser gekauft! Und zu monatlichen Alimenten ist er verurteilt worden – lächerliche Summen bei seinem Reichtum! Abgeschoben hat er mich hier heraus nach Dornbach … Und weil mich hier keiner gekannt hat, habe ich die Geschichte von seinem Tod im Krieg und unserer großen Liebe erfunden … damit niemand etwas von meiner Schande erfährt … nach siebzehn Jahren Ehe auf und davon mit einer anderen!« Hermine Lippowski hob eine Faust gegen die Decke. »Aber Gott ist gerecht! So etwas läßt er nicht durchgehen, ah, nein! Es hat ihm kein Glück gebracht, dem Viktor, wie er sich an mir versündigt hat, nein, kein Glück!«