»Valerie!« Landau trat besorgt neben sie. Er schüttelte leicht ihre Schulter. Er redete hastig auf die Reglose ein: »Nicht, Valerie, nicht … bitte … Das ist doch alles großartig … Paul wäre begeistert … Er hätte es nicht so hingekriegt … Ich auch nicht … Nicht einmal der Doktor Forster … Der wird entzückt sein … Valerie … Valerie, sag etwas, bitte!«
Doch Valerie Steinfeld sagte kein einziges Wort, kein einziges Wort.
49
Der Schreibtisch des Teekammerls, das alte Sofa und der Fußboden waren von Papieren und Urkunden bedeckt. Urkunden und Papiere lagen auf dem Radioapparat, dem Schaukelstuhl, dem Gasrechaud. Es war einen Tag später, Sonntagabend. Valerie und Landau arbeiteten seit dem Vormittag. Sie schrieben hier und nicht bei Valerie, damit diese, wie jeden Sonntag, BBC hören konnte. Sie hatten um 13 Uhr der Sendung aus London gelauscht und danach mitgebrachten ›Eintopf‹ aufgewärmt, den beide stehend, die Teller in der Hand, gegessen hatten. Anschließend waren sie gleich wieder an die Arbeit gegangen.
Es war eine mühselige Beschäftigung. Sie mußten den lückenlosen ›Großen Ariernachweis‹ für sich erbringen.
Bei Paul Steinfeld verlangte das Gericht Klarheit darüber, daß er, seine Eltern und Großeltern ›Bluts‹- und ›Geltungsjuden‹ waren. Zum Glück hatten die Eltern ihren Sohn evangelisch taufen lassen und waren selber konvertiert, aus rein beruflichen Gründen. In Preußen gab es vor der Jahrhundertwende einen Numerus clausus für jüdische Anwälte. Paul Steinfelds Eltern stammten aus Preußen, und sein Vater war Anwalt gewesen. Zum Glück – denn die Urkunden verstorbener Juden hätten sich nach der Zerstörung sämtlicher Synagogen im Dritten Reich schwerlich noch auftreiben lassen. So konnte man sich an evangelische Pfarrämter wenden.
Die meisten Dokumente besaß Martin Landau schon von seiner Bewerbung um die Parteimitgliedschaft her. Valerie verfügte nur über jene Papiere, die Heinz einst in der Schule hatte vorlegen müssen – um danach aus der Hitler-Jugend gefeuert zu werden. Bereits die Taufscheine ihrer Großeltern besaß Valerie nicht. Sie war gezwungen gewesen, zusammen mit Landau, anhand der wenigen vorliegenden Papiere und eines großen vorgedruckten Formulars zurückzurechnen, zu überlegen und Pfarr- und Standesämter in eigener Sache anzuschreiben.
Dieses Formular war ein dicker Bogen von 60 mal 40 Zentimeter Größe, angefüllt mit liegenden und stehenden Rechtecken, Zeichen und Worten in jener gotischen Schrifttype, die das Dritte Reich so bevorzugte.
Am Kopf dieses Papieres, das Gedeih oder Verderb, Leben oder Tod, Glück oder Leid bescherte in jenen Jahren, stand groß und massig das Wort
Ahnentafel
»Dieser Pavel Matic, dein zweiter Urgroßvater mütterlicherseits«, dozierte Valerie, auf eine Urkunde klopfend, »hat deine zweite Urgroßmutter mütterlicherseits am 25. September 1772 geheiratet. Steht hier auf dem Geburtsschein deiner Großmutter mütterlicherseits. Geheiratet in Prag. In der alten Carl-Borromäus-Kirche. In dieser Kirche ist dein Urgroßvater auch getauft worden. Steht auch noch hier. Wann, steht nicht hier.«
»Na ja, na und?« fragte Landau irritiert. »Werden wir eben an diese Carl-Borromäus-Kirche in Prag schreiben und um einen Taufschein von meinem Urgroßvater bitten!«
»Und ihn nicht bekommen«, sagte Valerie.
»Wie?«
Sie sah ihn unruhig an.
»Was hast du denn? Nun rede schon!«
»Martin, sei mir nicht böse … Ich hätte nicht davon gesprochen … Du weißt, ich erzähle dir nie etwas …«
»Ich verstehe kein Wort.«
Sie blickte zu dem Radioapparat.
»BBC?« fragte er, auffahrend.
Sie nickte.
»Was haben die gemeldet?«
»Ich weiß es einfach so, ja?«
»Vom Londoner Rundfunk!«
»Ich weiß es, hör schon auf! Du mußt es dir leider anhören. Du erinnerst dich doch noch daran, wie die Tschechen den Heydrich umgebracht haben, nicht?«
Er nickte.
Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei des SD, stellvertretender Chef der Gestapo, dieser achtunddreißigjährige, langnasige, eiskalt blickende Erfinder der ›Endlösung‹, hatte sich, unermüdlich mehr und mehr Macht an sich raffend, zum amtierenden ›Reichsprotektor für Böhmen und Mähren‹ machen lassen. Am Vormittag des 29. Mai 1942 fuhr er im offenen Wagen von seinem Landsitz nach Prag zum Hradschin, seinem Amtssitz. Eine Bombe wurde in den Wagen geworfen. Die Täter waren zwei Angehörige der Freien Tschechischen Armee in England, Jan Kubis und Josef Gabcik, die ein RAF-Flugzeug ins Land gebracht hatte und die mit dem Fallschirm abgesprungen waren. Unterstützt wurden die beiden von der tschechischen Widerstandsbewegung.
Heydrich starb am 4. Juni. Die Deutschen nahmen furchtbare Rache. Am meisten hatten Juden zu leiden, von denen man viele Tausende sofort in Vernichtungslagern umbrachte. Umgebracht wurden, nach einem Gestapobericht, auf der Stelle auch 1331 Tschechen, darunter 201 Frauen. Das nahe Prag gelegene Dorf Lidice erlangte Weltberühmtheit: Die Deutschen erschossen alle männlichen Bewohner, trennten Frauen und Kinder, verschleppten diese, steckten jene in Lager und machten Lidice buchstäblich dem Erdboden gleich.
Die Attentäter Kubis und Gabcik wurden von Mitgliedern der Untergrundbewegung in Sicherheit gebracht. Priester der Carl-Borromäus-Kirche in Prag versteckten sie. Daraufhin belagerte die SS die alte Kirche, ebenso das Pfarrhaus nebenan, und die Attentäter sowie 120 Männer der Widerstandsbewegung, die gleichfalls in der Kirche waren, wurden ausnahmslos getötet.
»… die SS legte Brand und verwüstete die Kirche und vor allem das Pfarrhaus. Da verbrannte fast alles. Ganz sicherlich existieren die alten Taufbücher nicht mehr«, erzählte Valerie stockend.
Martin Landau sprach lange Zeit kein Wort.
Endlich flüsterte er: »Diese Schweine … diese verfluchten Schweine … Also nicht an die Kirche schreiben?«
Lebhaft antwortete Valerie: »Aber ja doch! Natürlich an die Kirche schreiben! Das war eine Aktion, die geheimgehalten wurde. Wenn wir, in Wien, davon wissen, dann wird man sagen, die wissen davon durch den Londoner Rundfunk.«
»Welchen Sinn hat es aber dann …«
»Unsere Sicherheit! Wir müssen uns ganz dumm stellen!« Valerie seufzte. »Ich habe dir ja gesagt, mit diesem Pavel Matic werden wir noch unser Kreuz haben. Ganz dumm stellen und zuerst an die Carl-Borromäus-Kirche schreiben. Die werden antworten, sie können uns nicht helfen. Vielleicht hatten sie die alten Taufbücher irgendwo verlagert. Das wäre Glück! Sonst müssen wir versuchen, herauszufinden, wo dieser Pavel Matic gestorben ist und wann und wer den Sterbeschein ausgestellt hat. Auf dem Sterbeschein muß das Datum und der Ort der Taufe angegeben sein …«
Landau ließ sich in den Schaukelstuhl sinken und fluchte laut.
»Hör auf«, Valerie. »Es geht nicht anders. Und wir schaffen es schon.« Sie drückte seine Hand. »Wirst sehen, in ein paar Wochen haben wir alles, was wir brauchen.«
Valerie irrte sich.
Noch dreizehn Monate später sollten drei Dokumente fehlen, noch dreizehn Monate später sollten sie flehende Briefe an Pfarreien, Standesämter und Friedhofsverwaltungen schreiben mit der Bitte um beglaubigte Abschriften von Dokumenten, die sie benötigten, damit sie die arische Abstammung irgendwelcher Menschen beweisen konnten, die seit 150, 160 oder 180 Jahren tot waren.
Sie arbeiteten den ganzen Nachmittag. Valerie trieb zur Eile an. Sie hatte die Verzweiflung von gestern überwunden, ihr Gesicht war von Energie, Kraft, ja Rücksichtslosigkeit gezeichnet. Sie tippte Brief um Brief. Weiter! Weiter! Sie mußten weiterkommen! Es war keine Zeit zu verlieren!
Um viertel neun Uhr abends fuhr sie plötzlich hoch.
»Was ist los«? rief Landau erschrocken.
»Nachrichten um acht. Ganz vergessen. Sonntag abend spricht immer Paul. Wir machen eine Pause, ja? Sei lieb Martin …« Sie sah ihn lächelnd an.