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»Immer dasselbe«, knurrte er. Aber er nahm seinen Wintermantel, seinen Hut und seinen Schal und verschwand in den kalten Magazingewölben.

Valerie räumte schnell den ›Minerva 405‹ frei, schaltete ihn ein, setzte sich vor den Apparat, warf die Wolldecke über ihn und sich und drehte an dem Skalenknopf, bis sie die richtige Wellenlänge eingestellt hatte. Die Sendung lief bereits, und es war nicht die Stimme, die sie für jene Paul Steinfelds hielt und die niemals Paul Steinfelds Stimme war – es war die tönende Stimme Thomas Manns, der die neueste seiner in regelmäßigen Abständen ausgestrahlten Ansprachen an die ›Deutschen Hörer‹ verlas. »… Jetzt ist man bei der Vernichtung, dem maniakalischen Entschluß zur völligen Austilgung der europäischen Judenschaft angelangt. ›Es ist unser Ziel‹, hat Goebbels in einer Radio-Rede gesagt, ›die Juden auszurotten. Ob wir siegen oder geschlagen werden, wir müssen und werden dieses Ziel erreichen. Sollten die deutschen Heere zum Rückzug gezwungen werden, so werden sie auf ihrem Weg den letzten Juden von der Erde vertilgen.‹ – Kein vernunftbegabtes Wesen kann sich in den Gedankengang dieser verjauchten Gehirne versetzen. Wozu? fragt man sich. Warum? Wem ist damit gedient? Wird irgend jemand es besser haben, wenn die Juden vernichtet sind? Hat der unselige Lügenbold sich am Ende selber eingeredet, der Krieg sei vom ›Weltjudentum‹ angezettelt worden, es sei ein Judenkrieg und werde für und gegen die Juden geführt? Glaubt er, das ›Weltjudentum‹ werde vor Schrecken den Krieg gegen die Nazis untersagen, wenn es erfährt, daß deren Untergang den Untergang des letzten Juden in Europa bedeuten wird? Die Niederlage hält Gundolfs mißratener Sohn nachgerade für möglich. Aber nicht allein werden die Nazis zur Hölle fahren, sie werden Juden mitnehmen. Sie können nicht ohne Juden sein. Es ist tiefempfundene Schicksalsgemeinschaft. Ich glaube freilich, daß die zurückflutenden deutschen Heere an anderes zu denken haben als an Pogrome. Aber bis sie geschlagen sind, ist es irrsinniger Ernst mit der Ausrottung der Juden. Das Ghetto von Warschau, wo fünfhunderttausend Juden aus Polen, Österreich, Tschechoslowakien und Deutschland in zwei Dutzende elende Straßen zusammengepfercht worden sind, ist nichts als eine Hunger-, Pest- und Todesgrube, aus der Leichengeruch steigt. Fünfundsechzigtausend Menschen sind dort in einem Jahr, dem vorigen, gestorben. Nach den Informationen der polnischen Exilregierung sind alles in allem bereits jetzt siebenhunderttausend Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden, wovon siebzigtausend allein auf die Region von Minsk in Polen entfallen. Wißt ihr Deutsche das? Und wie findet ihr es …?«

50

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Dr. Karl Friedjung mit böser, kalter Stimme. Er saß hinter einem großen Arbeitstisch in seinem Empfangszimmer im ersten Stock der Staatsschule für Chemie auf der Hohen Warte. Der Novembertag war trüb, es regnete in dichten, heftigen Schlieren. Wind trug sie wie Schleier vor sich her. »Kein einziges Wort glaube ich Ihnen, Frau Steinfeld, das wollen wir gleich einmal festhalten, ja?«

Valerie biß sich auf die Lippe. Sie saß dem Direktor der Anstalt gegenüber auf einem unbequemen, harten Stuhl. Neben ihr saß der große, schlanke Dr. Forster. Valerie trug ein blaues, zweiteiliges Kleid mit Faltenrock, die Männer trugen zweireihige Anzüge mit den damals modernen, besonders breiten, wattierten Schultern. Friedjungs Empfangszimmer war groß und spartanisch eingerichtet – kein Teppich, billige Möbel aus hellem Holz, Bücherwände, Aktenschränke. Durch ein mächtiges Fenster blickte man auf den verlassenen Sportplatz, der zum großen Teil unter Wasser stand. Die Bäume hatten das letzte Laub verloren, ihr Holz glänzte schwarz. Eine Tür des Raums war halb geöffnet. Man sah in Friedjungs privates Laboratorium.

»Aber ich sage die Wahrheit! Herr Direktor, ich …«

Friedjung winkte verächtlich ab.

»Lügen! Nichts als Lügen. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mir mit so etwas kommen, hätte ich Sie überhaupt nicht empfangen!« Sein schmales Gesicht war blaß und wutverzerrt.

Warum ist dieser Mann derartig wütend? überlegte Forster, während er, an seinem rechten Ohr zupfend, ruhig einwarf: »Sie hätten uns empfangen müssen, Herr Direktor.«

»Meinen Sie!«

»Ich bin überzeugt davon. Wir haben in dieser Angelegenheit nämlich auch bereits den Herrn Gauleiter aufgesucht. Er empfing uns ohne weiteres. Und ohne eine derartige Reaktion, Herr Direktor.«

»Sie waren beim Gauleiter …«

»Gewiß.« Dreckskerl, verfluchter, dachte Forster. Nazischwein, elendes. Er lächelte höflich. »Es gehört zu meinen Pflichten, den Herrn Gauleiter und Sie persönlich davon zu verständigen, daß ich in meiner Eigenschaft als Rechtsfreund der Frau Steinfeld beim Landgericht Wien Klagebegehren des Inhalts eingebracht habe, daß Heinz Steinfeld nicht jüdischer Mischling Ersten Grades ist, sondern von durchwegs arischen Elternteilen abstammt. Die Klage hat die Nummer 25 Cg 4/42.«

»Die Nummer interessiert mich nicht! Das ist doch alles ein einziger jüdischer Dreh!«

Forster stand auf, er sagte: »Herr Direktor, ich bin zugelassener Anwalt. Ich bin Arier wie Sie. Sie werden sich für diese letzten Worte entschuldigen, oder ich werde eine Beleidigungsklage gegen Sie erheben.« Das wirkte. Friedjung verzog das Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. »War nicht so gemeint. Also gut, Herr Doktor, ich entschuldige mich bei Ihnen, ja? Bei Ihnen! Und nun setzen Sie sich wieder.«

Forster setzte sich wortlos.

Eine Klingel schrillte draußen im Haus. Gleich darauf flogen Türen auf, und viele jugendliche Stimmen erklangen. Man hörte Schritte, Gelächter, Geschrei. Eine Pause hatte gerade begonnen.

Valerie sagte mit fester Stimme: »Der Herr Gauleiter hat uns zugesichert, daß, solange dieser Prozeß läuft, keinerlei Schritte gegen meinen Sohn unternommen werden. Das sollen wir auch Ihnen mitteilen.«

Friedjung ballte die Fäuste auf der Tischplatte. Er schien – Valerie berichtete dem nicht anwesenden Martin Landau später, was sich in der Staatsschule für Chemie ereignet hatte – kaum fähig, seine Erregung zu beherrschen.

Ist das nur ein Choleriker? dachte Forster unruhig. Oder was regt diesen Mann so auf, wenn Valerie Steinfeld spricht, wenn er sie bloß ansieht? Sind die beiden schon einmal aneinandergeraten? Gibt es da ein Zerwürfnis zwischen ihnen? Forster nahm sich vor, seine Mandantin danach zu fragen.

Friedjung sagte, jetzt mit gepreßter Stimme: »Keinerlei Schritte, ja? Gut. Sehr gut. Ausgezeichnet. Hervorragend ausgedacht.«

»Herr Direktor, bitte!« Überwertigkeitskomplexe, dachte Forster. Der Lump. Der Supermensch. Herrenrasse. So sieht das aus. »Es ist genau, wie Frau Steinfeld sagt. Jedes Verfahren gegen Heinz ruht bis zum Abschluß des Prozesses.«

Draußen, auf den Gängen, lachten Jungen laut.

»Wie lange wird der Prozeß dauern?«

»Das ist völlig unbestimmt. Vielleicht lange …«

»Ah, ja?«

»… vielleicht ist er schon sehr bald beendet. In einem für Heinz positiven Sinn, der die Wahrheit ein für allemal festlegt.«

»Welche Wahrheit?«

»Daß er Arier ist.« Forster und Valerie waren in den letzten drei Wochen häufig zusammengewesen, sie hatten alle Einzelheiten genau durchgesprochen, gemeinsam das Klagebegehren aufgesetzt, und Valerie befand sich in einem Zustand, den man fast manisch-depressiv nennen konnte: Einmal war sie euphorisch und sah alles in glücklicher Weise sich lösen, gleich darauf befiel sie Angst, und sie hatte furchtbare Träume. Immer wieder aber war es in diesen Wochen Forster gewesen, der ihr neuen Mut gegeben hatte.

»Arier!« schrie Friedjung plötzlich los, so heftig, saß selbst Forster zusammenfuhr. »Ich will Ihnen mal was sagen, Frau Steinfeld! Ihr Sohn ist kein Arier! Ihr Sohn ist ein jüdischer Mischling!«

»Herr Direktor, zum letztenmal …« rief Forster.