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Martin Landau sagte langsam: »Es wird freilich eine Weile dauern, Heinz. Vielleicht eine lange Weile. Von heute auf morgen gewinnt man einen solchen Prozeß nicht.«

»Weiß ich doch!« rief der Junge. »Meinetwegen soll der Prozeß dauern, so lange er will! Daß ich kein Halbjud bin, das wissen jetzt alle! Der Friedjung, der Gauleiter, das Gericht! Das ist das Wichtigste! Was hast du denn, Vater?«

»Dein neuer Beruf … Ich habe gerade denken müssen, wie schwer das für dich ist …«

»Schwer? Überhaupt nicht! Zuerst, ja … oder bei einem solchen Sauwetter wie heute … Da ist es natürlich nicht gerade angenehm! Aber ich habe mich daran gewöhnt, ganz schnell! Und wenn ich auch spät nach Hause komme – ich kann doch lange schlafen! Das konnte ich früher nicht! Man trifft so interessante Leute, weißt du? Und während man auf die Rollen wartet, sieht man auch immer ein Stück Film … immer dasselbe Stück von jeder Rolle … nie den ganzen Film … komisch, nicht? Nein, deshalb brauchst du dir keine Gedanken zu machen!« Heinz lief, verdreckt und naß, wie er war, schnell zu Landau und zu seiner Mutter. Er umarmte und küßte beide. »Ich danke euch! Ich danke euch! Ach, ich danke euch so!« rief er. Dann kam er ein wenig zu sich. »Ich zieh mir rasch etwas Trockenes an. Jetzt habe ich sogar noch Hunger! Und ich bin gar nicht müde! Kommt ihr beide in die Küche, wenn ich esse? Ich will ganz genau hören, wie das war bei dem Schwein, dem Friedjung!«

»Wir kommen«, sagte Valerie. Ihr Lächeln war eingefroren. Heinz warf ihr eine Kußhand zu und verschwand.

Eine lange Stille folgte.

Dann sagte Landau: »Wir durften ihm nicht die Wahrheit sagen.«

»Nein, das durften wir nicht.« Nun war Valeries Lächeln verschwunden. Nun sah sie zu Tode erschöpft aus. »Wer weiß, wie lange dieser Prozeß dauert? Wer weiß, was geschieht mit uns allen, mit der ganzen Welt? Solange Heinz glaubt, daß er wieder studieren darf, ist er glücklich. Das muß er sein. Er darf nicht verzweifelt sein, wenn er vor Gericht kommt«, sagte Valerie. Sie sprach abgehackt. »Der Bub muß Hoffnung haben, Hoffnung. Und wenn wir den Prozeß gewinnen, dann werde ich diesen Friedjung zwingen, ihn wieder im Institut aufzunehmen …« Wie willst du so einen Mann zwingen?, dachte Landau, aber er schwieg und nickte. »Das sind alles Sorgen von morgen. Jetzt müssen wir eines nach dem anderen erledigen. Zuerst kommt der Prozeß. Der ist das Allerwichtigste. Und wir werden ihn gewinnen …«

»Toi, toi, toi!« Landau klopfte dreimal gegen Holz.

Valerie stand auf. Mit einer Stimme, die Landau vollkommen fremd, mechanisch und ohne jede menschliche Schwingung vorkam, sagte sie: »Sehen wir nach Heinz. Er wird schon in der Küche sein.«

Er war nicht in der Küche.

Sie fanden ihn in seinem Zimmer, ausgezogen bis auf ein Unterhemd und eine Unterhose. Die nassen Kleidungsstücke lagen verstreut umher. Heinz war in seinem Bett auf den Rücken gesunken. Er schlief. Die Müdigkeit, mit der er sich jede Nacht heimschleppte, hatte ihn übermannt. »Der arme Kerl«, sagte Landau.

Valerie war zum Bett geeilt. Sie zog die Decke unter dem Körper ihre Sohnes hervor und breitete sie über ihn. Martin trat näher. Heinz lag mit dem Kopf auf einem Kissen. Sein Haar und sein Gesicht waren immer noch regennaß. Er schnarchte zweimal. Er schlief sehr tief. Dann sagte er etwas im Schlaf, mit einem glücklichen Ausdruck im Gesicht.

»Goldene Stadt …«

»Was?« Landau neigte sich mit Valerie über den Jungen. »Was redet er?« Der Schlafende sprach undeutlich: »Golden … die Stadt … die Stadt … aus Gold … diese Stadt …«

Martin richtete sich auf.

»›Die goldene Stadt‹ – der neue Film von Veit Harlan! Mit der Söderbaum! Er läuft jetzt in den Kinos.«

»Und Heinz fährt die Rollen hin und her«, flüsterte Valerie. »Bis in den Schlaf hinein verfolgt ihn das …« Sie küßte ihren Sohn zart, dann ging sie mit Landau auf Zehenspitzen zur Tür und knipste das Licht aus. Der Junge bewegte sich. Die beiden Erwachsenen blieben in dem dunklen Zimmer stehen, Valerie eine Hand auf der Türklinke.

»Gold«, sagte Heinz Steinfeld im Schlaf. »Eine … ganze … Stadt … aus … Gold …«

52

Das Telefon läutete.

Martin Landau zuckte in seinem Sessel zusammen, ein verängstigter, kranker, alter Mann. Er machte eine hilflose Gebärde, als wollte er sagen: Sehen Sie, mich kann schon ein Telefon halb zu Tode erschrecken.

Manuel erhob sich und ging über den honiggelben Velours und die Chinabrücken zu einem Tischchen, auf dem das Telefon stand. »Hallo?«

»Sie werden aus Paris verlangt, Herr Aranda, einen Augenblick, bitte«, sagte eine Mädchenstimme. Es knisterte und knatterte in der Leitung. Als die Verbindung gleich darauf zustande kam, war sie sehr schlecht. Manuel verstand nur mit Anstrengung. Aber er erkannte sogleich die Männerstimme, die spanisch sprach.

»Cayetano!«

»Endlich! Fast fünf Stunden warte ich schon auf dieses Gespräch.« Der Erste Direktor und Vertreter von Manuels Vater in der QUIMICA ARANDA hatte eine laute, nervöse Art zu reden. »Mein lieber Manuel« – er kannte den Sohn seines Chefs seit dessen Kindheit –, »wir sitzen hier fest.«

»Wo hier?«

»Orly. Ein Schneesturm. Du machst dir keine Vorstellung. Es schneite schon, als wir zwischenlandeten – und gleich darauf ging die Welt unter! Der Flughafen ist geschlossen. Keine Maschine kann starten oder landen. Du solltest sehen, wie das hier ausschaut – die wissen nicht, wohin mit den Passagieren! Ich rufe an, damit du dir keine Sorgen machst. Wir sind okay – die Anwälte und ich. Aber wir müssen warten, bis der Sturm vorüber ist und man die Pisten geräumt hat.«

»Wie lange wird es dauern?« Manuel fühlte ein Ziehen in der Herzgegend. Cayetano und die Anwälte in Paris festgehalten. Die Entdeckung des Papiers mit den Notizen in der Handschrift seines Vaters. Streichung aller Buchungen für diese Nacht. War das schon eine Ahnung gewesen? Sollte, mußte, würde er nun doch in Wien bleiben? Er mußte! Mit jeder Stunde erfuhr er hier mehr, was Valerie und seinen Vater so geheimnisvoll verband. Hätte er heute nachmittag nicht diesen schmalbrüstigen Buchhändler angehört, der für kurze Zeit seines Lebens ein Mann, tapfer und ohne Furcht gewesen war, bevor er sich wieder in das zurückverwandelt hatte, was seine wirkliche Wesensart war, er hätte nicht erfahren, daß dieser Martin Landau das Papier mit den Viren- und Toxin-Vermutungen seines Vaters in Valerie Steinfelds Besitz gesehen hatte – 1942 …

»Sie sagen, es wird bis morgen früh dauern. Die Aussichten sind ungünstig. Der Sturm wird mit jeder Minute ärger. So etwas haben sie angeblich in Paris noch nie erlebt.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie hier sind, sind Sie hier.«

»Hast du wegen der Ermordung deines Vaters schon etwas …«

»Ja. Nicht am Telefon. Ich erwarte Sie also irgendwann morgen.« Manuel verabschiedete sich und legte den Hörer nieder.

»Entschuldigen Sie …«

»Keine Ursache. Es ist spät geworden. Ich muß ohnedies gehen. Natürlich komme ich wieder, aber immerhin, Sie verstehen, Tilly …«

»Herr Landau, sagen Sie mir bitte noch eines: Hat sich jemals herausgestellt, weshalb dieser Direktor Friedjung derartig brutal und niederträchtig mit Valerie Steinfeld sprach?«

»Nie, nein.«

»Sie hat auch keine Erklärung dafür gegeben?«

»Sie hatte keine. Ich meine: Sie sagte, sie hätte keine.«

»Sie glauben, sie verschwieg etwas?«

»Ich weiß es nicht. Immerhin, sehen Sie, es gab furchtbar rabiate Nazis. Vielleicht war dieser Friedjung einer von ihnen. Valerie behauptete es jedenfalls.«

»Vor Ihnen und Doktor Forster?«

»Ja. Wir fragten sie ein paarmal im Lauf der Zeit. Immer dasselbe. Sie war maßlos erbittert über Friedjung. Aber mir scheint heute, wenn ich zurückdenke, daß sie es war, weil er nicht grundlos so bösartig reagierte. Nein, nicht grundlos.«

Wieder läutete das Telefon.

Manuel zuckte die Schultern und ging an den Apparat. Er erkannte die tiefe, fast heisere Frauenstimme sofort.