Immer noch stieg die Kabine aufwärts, immer mehr Sonnenschein durchflutete sie.
Valerie öffnete ihre Handtasche und kramte darin. Sie sagte: »Das ist wirklich ein idealer Treffpunkt. Kein Mensch kann uns hier belauschen. Und ich will Ihnen alles zeigen. Sehen Sie! Durchschläge, die ich vom Doktor Forster bekommen habe. So fing es an. Das war die Klage, die er eingereicht hat …« Sie gab Nora einige dünne Papiere.
Nora überflog die Seiten.
›An das Landgericht Wien I., Justizpalast … Klagende Partei: mj. Heinz Steinfeld … mit Beschluß des Amtsgerichtes Währing 6G 503/42 vom 26. 11. 1942, vertreten durch seine Mutter Valerie Steinfeld … diese vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Otto Forster, Wien I., Rotenturmstraße 143 (Vollmacht vom 24. 10. 1942) … Beklagte Partei: Ein zur Verteidigung der ehel. Geburt und blutmäßigen Abstammung zu bestellender Kurator … KLAGE wegen Bestreitung der ehel. Geburt und wegen blutmäßiger Abstammung … Streitwert RM 2500 …‹
»Da haben wir die ganze Wahrheit auf den Kopf gestellt und behauptet, daß ich immer schon eine schlechte Ehe geführt habe … Aber das hat der Paul doch wollen! Wenn er das lesen könnte, er würde lachen müssen!« sagte Valerie und lachte selber wieder. Sie wies mit dem Finger. »Hier, zum Beispiel … ›Die Verschiedenheit im Wesen der beiden Ehegatten‹ … Da kommen viele solche Sachen vor! Großartig, nicht?«
»Großartig«, sagte Nora. Sie bemerkte, daß Valeries Hände zitterten. Valerie bemerkte, daß Nora es bemerkte. Sie lachte wieder. »Aufgeregt, ich bin so aufgeregt, weil alles so gut geht! Der Richter, den wir kriegen, ist auch ein Antinazi, sagt Forster. Kann man überhaupt so viel Glück haben?«
Nun hielt die Kabine am höchsten Punkt ihrer Bahn an, leicht schaukelnd.
Jede Kabine hielt hier fünf Minuten lang. Die Millionenstadt lag in der Tiefe, Menschen waren nicht mehr zu sehen, die Häuser winzig klein, die Berge des Wienerwaldes sanfte Hügel, die Donau war ein Bächlein. Ein Lautsprecher schaltete sich ein.
Metallisch, leiernd, von einer Platte oder Walze, erklang eine ölige Männerstimme. Sie ertönte in jedem Waggon, der den Zenit der Bahn erreicht hatte.
»Das Wiener Riesenrad, ein Wahrzeichen der Hauptstadt der Ostmark und ein Symbol für den weltberühmten Prater, bildet mit seiner weithin sichtbaren Silhouette einen besonderen Anziehungspunkt für alle Besucher Wiens. Man war nicht in Wien, wenn man nicht mit dem Riesenrad gefahren ist …«
»Ich muß Ihnen gratulieren«, sagte Nora, während die Stimme leierte. »Ach, mir! Natürlich bin ich auch sehr froh … aber Paul! Paul wird erst froh sein, nicht wahr? Wann fliegt Ihr Freund wieder nach London?«
»Bald nach meiner Rückkehr.«
»Mein Gott, er soll Paul nur alles genau erzählen! Wie gut alles geht … nichts vergessen … Sie dürfen auch nichts vergessen!«
»Kein Wort«, sagte Nora und las, die Seiten überfliegend: ›… Paul Steinfeld vereinigte nicht nur im Wesen, sondern auch dem Äußeren nach in sich in leicht erkennbarer Weise die typischen Merkmale der jüdischen Rasse … Beweis: zahlreiche vorzulegende Fotografien, Aussagen von Zeugen …‹
»… Das Wiener Riesenrad wurde 1896 von dem englischen Ingenieur Walter Basset errichtet. Die von demselben Konstrukteur gebauten Riesenräder in Chicago, London, Blackpool und Paris wurden bald abgetragen und verschrottet. Nicht so das Wiener Riesenrad …«
›… Der Kläger ist von allen diesen Merkmalen völlig frei, so daß … als über jeden Zweifel erhaben angesehen werden muß, daß er … nicht aus dem ehelichen Verkehr mit dem Ehegatten … sondern aus dem Verkehr … mit Martin Landau stammt …‹
Valerie reichte Nora weitere Papiere.
»Dann ist die erste Tagsatzung gekommen. Das hat bis zum 18. Dezember gedauert … Ich war gar nicht dort, Forster hat mir geschrieben …«
Nora las:
›… findet beim Landgericht am 18. Dezember 1942 statt. Zum Kurator wurde Rechtsanwalt Dr. Hubert Kummer bestellt … ein rein formeller Termin, bei dem Ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist … Mit Handkuß, ergebener Dr. Otto Forster …‹
Die Lautsprecherstimme hatte unterdessen weitergeredet.
»… der Durchmesser des Rades beträgt 61 Meter, der höchste Punkt über dem Boden 64 Meter und 75 Zentimeter. Das Rad …«
»Und hier!« Valerie gab Nora einen neuen Bogen.
Diese las.
›… wurde dem Kurator Dr. Kummer bei der ersten Tagsatzung eine Frist bis zum 15. Januar 1943 zur Erstattung der Klagebeantwortung erteilt …‹ Immer noch schaukelte die Kabine sanft auf der Höhe des Rades, immer noch erklang die Lautsprecherstimme.
»… die Achsenmitte befindet sich 34 Komma 2 Meter über dem Boden. Die Tragkonstruktion aus acht Pylonen wiegt 165 Komma 2 Tonnen …«
Valerie sagte mit strahlendem Gesicht: »Und der Kurator, der Doktor Kummer, ist auch ein Antinazi, hat Forster mir erzählt. Unglaublich, nicht?«
»Ja«, sagte Nora. »Unglaublich. Ein Wunder fast.«
Valerie kramte wieder in ihrer Tasche.
»Bei der ersten Tagsatzung hat Forster den Richter zum erstenmal gesehen, einen gewissen Doktor Gloggnigg. Und er hat mir erzählt, daß er den schon kennt aus anderen Prozessen … ein alter Sozi! Hier, bitte, noch ein Brief von Forster …«
Nora las: ›… 15. Januar 1943 … Sehr geehrte gnädige Frau … Klagebeantwortung des Kurators nunmehr eingelangt … hat das Gericht die mündliche Streitverhandlung für den 20. März 1943, 10 Uhr, Justizpalast, III. Stock, Saal XXIX, anberaumt …‹
Valerie sagte atemlos: »Merken Sie, wie die das verschleppen? Streitverhandlung erst am 20. März! Das sind hervorragende Zeichen, sagt Forster. Sind es doch auch, nicht wahr?«
Nora nickte und las:
›… die Klagebeantwortung des Kurators ist – wie zu erwarten war – rein formell gehalten und enthält keine erwähnenswerten Gesichtspunkte … Mit Handkuß, ergebener …‹
»… das Riesenrad dreht sich mit einer Geschwindigkeit von Null Komma 75 Metern in der Sekunde. Wir hoffen, daß Ihnen diese Fahrt noch lange in schöner Erinnerung bleiben wird. Heil Hitler!«
Der Lautsprecher schaltete mit einem lauten Knacken ab.
Gleich darauf setzte sich die Kabine, sanft schaukelnd, ganz langsam wieder in Bewegung.
»Von der Klagebeantwortung des Kurators hat mir der Doktor Forster ebenfalls einen Durchschlag geschickt«, sagte Valerie. »Hier …«
Nora nahm einen Briefbogen.
›… gewärtige ich zunächst die Vorlage der Urkunden, auf welche sich die Klage beruft, die jedoch derselben nicht angeschlossen gewesen sind … Die diesem vermutlichen Urkundeninhalt widersprechende Behauptung, der Kläger sei nicht von Paul Steinfeld, sondern von Martin Landau gezeugt worden, bestreite ich so lange, als nicht der ordnungsgemäße Nachweis für diese Behauptung erbracht wird, welchen Nachweis der Kläger zu führen hat …‹
»Nur das Geschwätz, das er halt schreiben hat müssen, sagt der Doktor Forster«, erklärte Valerie nervös, weil sie sah, daß Nora das letzte Schriftstück weniger rasch überflog als die anderen. »Brauchen Sie gar nicht zu Ende zu lesen!«
»Ich will aber«, sagte Nora.
›… behalte mir vor, gegebenenfalls, je nach schließlicher Gestaltung der Beweisanträge des Klägers, den Antrag auf anthropologische und erbbiologische Untersuchung des Klägers und Begutachtung durch Sachverständige darüber zu stellen, daß die Merkmale der Abstammung von dem nichtarischen Erzeuger vorliegen, bzw. ausgeschlossen sind … Im Hinblick auf die von mir als Kurator bei der ersten Tagsatzung grundsätzlich geltend gemachte Bestreitung beantrage ich im übrigen die kostenpflichtige Abweisung des Klagebegehrens …‹
Das sieht nun gar nicht schön aus, dachte Nora und sagte: »Aber da steht …«
»Ja, ja, ja! Ich bin zuerst auch erschrocken. Doch dann hat Forster mir gesagt, diesen Satz hat der Kurator einfach schreiben müssen – um sich zu schützen!« Valerie zuckte die Achseln, lachte und verstaute die Papiere wieder in ihrer Tasche. »Hier muß sich doch dauernd einer vor dem andern schützen, nicht wahr? Hat überhaupt nichts zu bedeuten.«