Nun wurden die Spielzeughäuser wieder größer, nun erschienen wieder Menschen auf den Straßen.
Nora sah die scheinbar so frohgemute Valerie an.
»Und wenn man eine Blutgruppenuntersuchung macht?«
»Dann macht man sie eben!«
»Sie sind so optimistisch. Die Blutgruppenuntersuchung kann doch alles zerstören.«
»Kann sie nicht«, sagte Valerie lachend, indessen die Menschen, die Häuser, Kirchen und Straßenbahnen größer und größer wurden, indessen die Erde zu ihnen heraufzusteigen schien.
»Wieso nicht?«
»Forster kennt einen Arzt mit einem serologischen Laboratorium. Wir haben zur Sicherheit unsere Blutgruppen schon überprüfen lassen, der Martin, der Heinz und ich! Der Arzt ist absolut zuverlässig. Der sagt kein Wort«, log Valerie fließend. »Da besteht überhaupt keine Gefahr! Und es ist nach diesem Untersuchungsergebnis möglich, daß Martin Landau der Vater ist!«
»Großartig«, sagte Nora beeindruckt.
»Bitte nehmen Sie das!« Valerie drückte Nora einen sehr kleinen Gegenstand in die Hand.
Es war ein Reh aus Blei, kaum so groß wie ein Pfennigstück. »1937, zu Silvester, da waren wir eingeladen … zweieinhalb Monate, bevor er weg mußte, der Paul. Nach Mitternacht haben wir Knallbonbons gezogen. In einem, an dem Paul und ich zogen, war das da … ein kleines Reh. Wir haben uns so gefreut darüber, denn mein Mann hat mich immer Rehlein genannt, wissen Sie? Weil ich so schlank war. Er hat gesagt, es wird uns Glück bringen, dieses kleine Reh, ich soll es aufheben. Ich, ich habe schon Glück hier! Ich möchte, daß es ihn jetzt beschützt!« Valerie sprach plötzlich wie ein verlegenes junges Mädchen. »Er soll es jetzt haben. Bitte, nehmen Sie es mit nach Lissabon! Und von Lissabon soll Ihr Freund es nach London bringen. Zu Paul. Wollen Sie …?«
»Natürlich«, sagte Nora Hill und steckte das Stückchen geformtes Blei ein.
Groß waren die Häuser, die Menschen, die Straßen inzwischen wieder geworden.
Nora erhob sich.
»Wir werden uns nicht mehr sehen. Ich melde mich wieder, wenn ich zurück bin. Zuerst steige ich aus der Gondel. Sie folgen und bleiben noch ein paar Minuten hier. Wir kennen uns nicht.«
»Ich danke Ihnen, Fräulein Hill. Ihnen und Ihrem Freund. Der liebe Gott wird Ihnen beiden Ihre Güte vergelten.«
Der Waggon stand still.
Ein Angestellter schloß die gläserne Schiebetür auf. Ohne sich umzublicken ging Nora Hill schnell durch den Schnee zum Praterstern und dem Tegetthoffdenkmal. Dort hielten Straßenbahnen.
Es waren jetzt mehr Menschen beim Rad. Valerie wurde gestoßen, als sie langsam, wie träumend, die Kabine verließ.
»Na! Bewegen S’ Ihnen vielleicht!«
Valerie lächelte noch immer. Sie ging in eine andere Richtung als Nora, ein Stück weiter in den Prater hinein.
Sie ging immer langsamer. Das Lächeln war nun von ihrem Gesicht gewischt. Sie taumelte plötzlich. Mit letzter Kraft erreichte sie eine verschneite Bank und ließ sich schwer darauf fallen.
Sie war atemlos wie nach einer übermenschlichen Anstrengung. Der Mund stand offen. Die Lippen waren blutleer. Valeries Hände zitterten, ihr ganzer Körper bebte. Sie saß auf der verschneiten Bank und fühlte plötzlich Schweiß über ihren Rücken rinnen, trotz der Kälte. Alles, was sie denken konnte, war: Paul. Er muß beruhigt sein. Ich mußte lügen. Hoffentlich habe ich gut gelogen. Hoffentlich ist Paul beruhigt. Ach Paul, mein Geliebter. Das Reh ist nun unterwegs zu dir …
58
»Herein!« sagte Nora laut. Sie hatte vor einer Minute das große Wohnzimmer ihres Appartements im ersten Stock des skurrilen, kreisrund gebauten Hauses am Lainzer Tiergarten betreten. Nun klopfte es. »Herein!« rief Nora noch einmal. Es war 16 Uhr 40, und es dämmerte schon. Fast zwei Stunden hatte Nora für die Heimfahrt benötigt.
Die Tür zum Wohnzimmer mit dem breiten Kamin, in welchem ein fröhliches Feuer brannte, öffnete sich. Chauffeur Albert Carlson trat ein. Elektrisches Licht brannte bereits und ließ Carlsons hageres, hungrig wirkendes Gesicht mit den stechenden Augen und den zusammengewachsenen Brauen fahl und gespenstisch wie einen Totenschädel erscheinen.
»Ah, Carlson. Was gibt’s?« Nora warf ihren Mantel über einen Sessel.
Der Chauffeur trug Zivil. Er starrte sie schweigend an.
»Carlson! Was wollen Sie?«
»Dich«, sagte er heiser.
Sie sah ihn gleichmütig an.
»Haben Sie den Verstand verloren? Scheren Sie sich raus! Los!«
»Aber ich denke doch nicht daran«, sagte Carlson, näherkommend. Nora hatte schnelle Reaktionen. Sie fuhr herum und griff nach einem Telefonhörer. Ehe sie abheben konnte, hatte er ihr auf die Hand geschlagen.
»Das läßt du sein, kapiert?«
»Ich wollte …«
»Die Torwache beim Parkeingang anrufen, ja.«
»Nein, Konrad.« Konrad war der Diener.
»Der ist nicht da, Puppe.« Er stand jetzt dicht neben ihr. Sie wollte zurückweichen, doch er hielt eisern ihre Hand fest. »Es ist überhaupt niemand da. Das ganze Personal hat Ausgang bis Mitternacht. Der Chef kommt erst spät. Ich soll ihn abholen um neun. Nur die Torwache ist da – und das Tor ist weit weg. Wir haben Zeit genug … Kein Mensch ist im Haus … nur wir zwei …«
Seine Augen hatten einen glasigen Ausdruck.
Nora war immer weiter vor ihm zurückgewichen. Jetzt stieß sie gegen eine Wand. Er legte eine Hand auf ihre Brust.
»Lassen Sie das, oder ich schreie!«
»Schrei doch.« Carlson grinste. »Schrei doch, du Hure! So laut du willst! Hört dich kein Mensch bis zum Parktor.«
»Nehmen Sie die Hand weg!«
Als Antwort riß er das Oberteil des braunen Jackenkleides auf. Nur ein schwarzes Seidenhemd bedeckte noch Noras Brüste. Sie zeichneten sich deutlich durch den dünnen Stoff ab.
»Das ist ja eine Wucht!« Er streichelte und kniff beide Brüste über der schwarzen Seide. »Warum immer nur für den Chef? Warum nicht auch für mich?« Er preßte seinen Körper gegen den ihren, sie fühlte seine Erregung.
»Sie … Sie … ich werde das Herrn Flemming erzählen …«
»Einen Dreck wirst du erzählen, du Nutte. Weißt du noch, wie du diese Steinfeld zum erstenmal getroffen hast? In der Buchhandlung, dann in der Stephanskirche?« Er fuhr dauernd mit einer Hand über ihre Brüste, mit der anderen hielt er ihren Arm fest. Sie erstarrte vor Schrecken.
»Kannst dich noch genau erinnern, was?«
»Keine Ahnung …«
»Keine Ahnung, sagt sie! Hast mich also wirklich nicht gesehen?«
»Sie waren das? Das war nicht nur …« Nora biß sich auf die Lippe.
»Einbildung von diesem Buchhändler, wolltest du sagen, wie?« Er lachte, und wieder traf sie sein Atem. »Jetzt hast du dich aber schön verquatscht. Nein, das war keine Einbildung! Den blauen Mantel und den Homburg habe ich immer getragen, wenn ich hinter dir her war …« Er kniff eine Brustwarze.
Sie schrie leise auf.
»Immer?«
»Immer, ja«, sagte Carlson. »Seit einem Jahr.«
»Aber warum?«
»Weil ich dich ficken will. Halt bloß das Maul, ja? Damals wußte ich noch nicht genug. Inzwischen habe ich mich erkundigt über diese Steinfeld. Bin auch ihr nach. Zu einem Anwalt namens Forster. Aufs Amtsgericht in Währing. Da habe ich dämlich getan und ein paar Fragen gestellt. Führt einen Prozeß, die Dame. Abstammung von ihrem Balg. Daß das kein Halbjud ist. Der Steinfeld, ihr Mann, ist nämlich ein Jud. Sitzt in England.«
»Das ist nicht wahr!«
»Klar ist es wahr. Habe meine Freunde. Hier und dort. Auch im Justizpalast. Und wo warst du heute? Im Prater! Wieder mit der Steinfeld. Allein im Waggon wart ihr, und gequatscht habt ihr, die ganze Zeit …«
»Das ist doch Irrsinn!«
»Gar kein Irrsinn. Du bist dauernd in Lissabon. Dorthin kann er Nachrichten kommen lassen, der Jud. Die kriegst du. Gibst sie hier in Wien weiter. Der Rückweg ist derselbe. Hat mich eine Weile gekostet, bis ich das alles zusammen hatte. Jetzt ist es soweit. Zieh dich aus.«